DICKE LUFT IN DER
GRUFT
So ein Tagesanbruch ist für echte Vampire das
reinste Morgengrauen. Von hellem Entsetzen gepackt, hilft nur der Sprung ins
kühle Dunkel. Aber kaum hat man mal eine passende Gruft gefunden, schwupp,
schon liegt ein anderer drin! Nur wer hier kühles Blut bewahrt und sich nicht
an Knoblauchknollen, Ratten und Holzpflöcken die Zähne ausbeißt, findet ein
friedliches Plätzchen für den Schlummer bis zur nächsten Abenddämmerung.
Mit diesen Worten
werden die Spielerinnen auf eine halbe Stunde Nerv zerreißender
Schlafplatzsuche eingestimmt. Alle eigenen Vampire müssen in den sechzig
Gräbern des quadratisch ausgelegten Friedhofs zur Ruhe gebettet werden.
Allerdings geht dies nicht so einfach, müssen für die Vampire doch zuerst die
mit Fledermauswappen verzierten Gruftdeckel geöffnet und dabei noch die im
düsteren Dämmerlicht reflektierenden Farben der passenden Deckelunterseiten
gefunden werden. Sobald ein Gruftdeckel die falsche Farbe zeigt, ist die
nächste Spielerin an der Reihe. Aber wie gebannt starren alle um den Tisch Sitzenden
bei jedem Grabplatz auf den Fledermausdeckel, haben sie doch vielleicht in
wenigen Minuten selbst die Möglichkeit, für einen ihrer Vampire die passende
Ruhestatt zu finden. Voraussetzung ist allerdings ein gutes Merkvermögen, denn
das Öffnen einer besetzten Gruft wird schwer bestraft. So sieht sie nun mal
aus, die Welt der Vampire, wie sie vom jungen Spielautor Norbert Proena
geschaffen wurde.
Nach dem ersten
Regelstudium wird die Leserin sofort an das bewährte Memorysystem erinnert, den
ungebrochenen Ravensburger Kassenschlager aus dem Jahre 1959. Seit damals hat
diese Spielform weltweit enorme
Popularität erlangt. Dafür gibt es natürlich gute Gründe. Zum einen sind reine
Merkspiele leicht zu erlernen, zum anderen für praktisch jede Generation
geeignet. Man muss nicht der geborene Spielprofi sein, um mit seinen Kindern
und Enkelkindern die oft buntesten Plättchen aufzudecken und nach zwei Gleichen
zu suchen. Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis spielen die entscheidende
Rolle. Und bei diesen Eigenschaften sind Kinder Erwachsenen oft sogar
überlegen. Der erste geniale Einfall kam dem Schweizer Heinrich Hurter schon im
Jahre 1946, als er seinen Enkelkindern ein selbst gebasteltes Kinderlegespiel
nach London mitbrachte. Erst nach der Rückkehr in die Schweiz wurde schließlich
ernsthaft an eine Veröffentlichung gedacht. Genaue Recherchen der
Spielhistoriker haben allerdings ergeben, dass die Idee, verdeckte Bildpaare zu
suchen, bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Eine Spielart
namens Kai-awase wurde in Japan
aufgespürt. Auch in England und den USA des 19. Jahrhunderts sind ähnliche
Spielformen unter den Namen Pelmanism,
Pairs und Concentration aufgetaucht. Und sogar das Heimatland des Memory, die Schweiz, hat im Zwillingsspiel einen unmittelbaren
Vorläufer dieses Klassikers.
Zurück zu unserem
neuen Vampir-Gedächtnisthriller. Hier sind es nicht die üblichen Bildpaare,
sondern Grabdeckel und Vampirplättchen, die, farblich aufeinander abgestimmt, in
passenden Raststätten von 60 vorgefertigten Gruftplätzen zusammen kommen. Es
wird also nicht nach klassischer Manier aus einem ausgelegten Rasterfeld Karte
um Karte aufgedeckt, sondern vielmehr mit einem völlig leeren Gruftsystem
begonnen, dessen Gräber wie auf einem Friedhof um einen Kreuzweg angeordnet
sind. Nicht absolut symmetrisch, wohl wahr, vielleicht um den Spielerinnen das
Leben nicht gar so schwer zu machen. Mit fortschreitender Nacht füllen sich die
Gräber, und die Mühen, einen Ruheplatz für die lichtscheuen Vampire zu finden,
werden größer und größer. Auf dem Kreuzweg liegen 13 Holzpflöcke, die, bei unerlaubter
Störung der Nachtruhe eines Vampirs, als Strafhölzchen verteilt werden. Jede Spielerin hat außerdem fein säuberlich zwischen
zehn und zwanzig Vampire in einer Reihe vor sich liegen, die jeweils beiden
äußersten offen, die übrigen verdeckt. Zuletzt stehen den Spielfreunden noch
jeweils drei persönlich eingefärbte Knoblauchknollen zur Verfügung. Über deren
Bedeutung wird später noch einiges zu sagen sein.
Wie nun ist der
genaue Spielablauf? Im Grunde genommen sehr simpel: Man öffne ein Grab,
vergleiche die Farbe der Unterseite des „Fledermausdeckels“ (die Oberseite
zeigt diese stilisierten Flugsäuger) mit
einem der Randvampire der eigenen Vampirreihe und platziere einen eigenen
Vampir in die offene Gruft. Diese Gruft ist im weiteren Spiel tabu. Wer immer
danach den Deckel verschiebt, wird mit einem Holzpflock bestraft. Sobald jemand
das dritte Hölzchen einstreicht, „schenkt“ ihm jede Spielerin einen ihrer
beiden außen liegenden Vampire. Wunderbar, damit rückt man dem Spielziel, alle
Vampire los zu werden, wieder um einen Schritt näher. Gelingt es allerdings,
einen Vampir in die Grube zu legen, darf die Spielerin sofort das nächste Grab öffnen.
Theoretisch, aber das wird statistisch in tausend Jahren nicht vorkommen,
könnte eine Spielerin alle ihre Vampire auf einen Schlag loswerden. Praktisch
wird im günstigsten Fall nach zwei, drei Gruftdeckeln Schluss sein. Grund: Die
Farbe der Fledermausdeckelunterseite passt einfach nicht.
Bevor nun die Gruft
verschlossen wird, darf die am Spielzug befindliche Spielerin eine ihrer drei
Knoblauchknollen ins Grab legen. Damit ist allen weiteren Spielerinnen diese
Ruhestätte verschlossen. Die Betonung liegt auf „darf“, denn die Knoblauchknollen
sind rar, und gerade gegen Ende des Spiels eine enorme Waffe. Öffnet nämlich
jemand unbedacht das Grab, geht der Knoblauch an den jeweiligen Besitzer
zurück. Außerdem wird der Übeltäter durch den Knoblauchleger mit einem seiner
äußeren Vampire „beschenkt“. Erfährt jemand das grausige Schicksal, eine eigene
Knoblauchzehe aufzudecken, wird als Dank von jedem Mitspieler ein Vampir weiter
gereicht. Diese Zusatzvampire werden offen an beliebige Plätze der eigenen
Vampirreihe angelegt. Sie machen der Spielerin das Leben noch schwerer als es
ohnehin schon ist. Sobald endlich der Fledermausdeckel auf seinem Platz liegt, ist
die nächste Spielerin an der Reihe. So weit scheint alles dem altbewährten Memory irgendwie ähnlich.
Aber es gibt bei
diesem Gruftspiel auch noch die so genannte Rattenplage. Was heißt das nun
wieder? Vor dem Spiel werden sechs Grabdeckel eingemischt, die statt einer
Farbe auf der Unterseite gefräßige Nager zeigen. Öffnet eine Spielerin einen
dieser Rattendeckel, bleibt das Grab für einige Minuten ungeschützt. Je nach
Belieben darf nun jede Gruft, die um das Rattengrab herum gebaut ist, geöffnet
werden, so lange, bis eine farblich unpassende Deckelplatte gehoben, ein
besetztes Vampirgrab offen gelegt oder eine Knoblauchgruft geöffnet wird. Oder einfach
bis der Spieler genug des grausigen Spiels hat. Nun ist die links sitzende
Spielerin an der Reihe. Alle Fledermausplatten rings um die Ratte bleiben
offen, bis alle Spielerinnen einmal dran waren oder alle Gräber geöffnet
wurden. Danach wird der mit einer Ratte verzierte Deckel durch eine Reserveplatte
vom Steinmetz ersetzt und das Spiel geht normal weiter. Irgendwann nach einer
knappen halben Stunde gelingt es einer Spielerin dem nächtlichen Treiben ein
Ende zu bereiten. Meist kommt es dann gleich zur Revanche. Pietätvoll sollten
ja in einer weiteren Nacht auch die eigenen Vampire ihre letzte Ruhe finden.
Exzellent ist das
Spielmaterial, von der doppelten Kartonplatte, in die die Gräber eingelassen
sind, der stimmigen Grabanlage des Vampirfriedhofs, bis zu den kindgerecht
illustrierten Vampiren. Weniger praktisch ist die Unordnung im
Schachtelinneren. Hier helfen auch die verschließbaren Plastikbeutel wenig,
wird doch in der Spielvariante für zwei mit farblich abgestimmtem, verringertem
Material gespielt. Das Zusammentragen der vierzig Vampire sowie der farblich passenden
Grabdeckel gestattet sich eher mühevoll. Überhaupt flacht bei der Variante für
zwei Spieler (die männliche Form ist der Regel entnommen) durch das ständige
Hin- und Herschieben der Vampire den Spannungsbogen zu früh ab. Irgendwann wird
der Punkt erreicht, wo eine Spielerin einfach nur mehr blinde Graböffnungen
vornimmt. Dafür überzeugt die in einem
Extraheft in englischer und französischer Sprache gehaltene Regel. Ich kann mir
vorstellen, dieses Spiel mit Schülerinnen gemeinsam „regeltechnisch“ zu
erarbeiten. Und besonders lobenswert: es gibt kaum Wartezeiten. Fast ist das
Gegenteil der Fall, man scheint ständig vor der wichtigen Entscheidung einer
glückhaften Grabdeckelöffnung zu stehen. Das Spieltempo passt hier ganz genau!
Mit welcher Taktik
soll ich meine Vampire zur Ruhe bringen? Drei Ideen möchte ich Ihnen an dieser
Stelle verraten. (1) Versuchen Sie zumindest beim eigenen Aufdecken ein gewisses
Schema einzuhalten, auch wenn Ihnen die Mitspielerinnen immer wieder Gräber vor
der Nase wegschnappen werden. (2) Platzieren Sie die Knoblauchknollen mit
Bedacht. Sie sperren ja eine Gruft nicht nur für die Gegnerinnen sondern auch
für sich selbst. Und gehen Sie (3) entspannt an die Sache ran. Nach einem
harten Arbeitstag ist bei Dicke Luft in
der Gruft eine erfolglose Gräbersuche vorprogrammiert.
Bleibt zuletzt das
Thema Regelfragen. Fast alles ist auf Anhieb aus den acht, gut bebilderten
Seiten zu entnehmen. „Einmal gelesen, sofort gespielt,“ so viel kann ich
ruhigen Gewissens unterstreichen. Dennoch sind wir bei wiederholtem Spiel auf zwei
kleine Regelfragen gestoßen, die gerade in der Endphase entscheidend sein
könnten. Punkt 1: In der Anleitung steht wortwörtlich: „Jetzt darfst du gleich die nächste Gruft aufdecken, denn du bist so
lange am Zug, bis du eine Gruft öffnest, in die du keinen Vampir hineinlegen
darfst (Ausnahme Rattenplage).“ Heißt das „darf“, dass auch ein Verzicht erlaubt
ist? Beide Möglichkeiten sind denkbar. An dieser Stelle wäre eine noch größere Regelpräzision
wünschenswert. Wir spielen mit dem wahrscheinlich vom Autor geplanten
Pflichtzug. Das führt dann aber zu Punkt 2: Theoretisch könnten alle
Spielerinnen reihum immer wieder einen gleichen, farblich unpassenden
Gruftdeckel öffnen, sodass sich das Spiel aufhängt. Hier empfehlen wir eine
einfache Regelung. Im Falle einer „Reihumaktion“ muss die erste Spielerin ein
anderes Grab wählen.
Mein persönliches
Fazit: Dicke Luft in der Gruft ist
ein wunderbares Familienspiel, im buchstäblichen Sinne des Wortes, und damit
durchaus vertretbar auf der Nominierungsliste zum Spiel des Jahres 2004 in der
allgemeinen Klasse, auch wenn auf der Spielschachtel „Alter ab 6“ steht. Am
meisten Spaß kommt dann auf, wenn jung und alt gemeinsam versuchen, Vampire zu
begraben. Für reine Erwachsenenrunden sind die taktischen Möglichkeiten zu
gering, und auch der Reiz und das Kribbeln beim Öffnen eines Grabdeckels lassen
nach einiger Zeit merklich nach. Aber mit Kindern, besonders mit
Unter-10-jährigen, kommt ein schaurig-wohliges Prickeln auf, das sich immer
wieder in kleinen Freudensausbrüchen entlädt, wenn die Gegnerinnen auf ihrer
fast verzweifelten Suche nach einem leeren Grab wieder mal auf eine Knoblauchknolle
stoßen – dann herrscht wahrlich „dicke“ Luft in der Gruft. In der klassischen
Würfelwertung würde ich für die Familienvariante daher eine „5“, für das
Vampirbegraben unter Erwachsenen eine „4“ geben. Dieses Gefühl der Erwartung
beim Aufdecken ist ja schon vom klassischen Memory hinlänglich bekannt. Hier
findet es eine neue, noch um einige Nuancen gesteigerte Ausprägung, sowohl im
taktischen Sinn, als vor allem in atmosphärischer Hinsicht. Der Gruftplan mit
seinem Kreuzweg und den 60 Vertiefungen machen das Begraben werden zu einer
fast physisch spürbaren Erfahrung. Was will man mehr von einem
Familienspiel.
Sieh an, sieh an, die Gruft ist leer,
nun schnell hinein und Deckel zu,
auch keine Ratte haust hier mehr.
So find ich endlich meine Ruh’.
(Einstimmungsgedicht der
Spielregel)
Hugo Kastner
DICKE
LUFT IN DER GRUFT
Spieler: 2-6
Alter: ab
6 Jahren
Dauer: 20
– 30 Minuten
Verlag: Zoch
Verlag 2004
Autor: Norbert Proena
Grafiker: Victor
Boden
Preis: ca.
€ 30
WIN WERTUNG
Genre: Memory-/Gedächtnisspiel
Zielgruppe: Familie
Mechanismus: Aufdecken
und merken
Strategie: *
Taktik: **
Glück: ****
Interaktion: *****
Kommunikation: ***
Atmosphäre: ******
Kommentar:
Nominierung zum
Spiel des Jahres 2004
Stimmiges
Spielmaterial
Hoher
Wiederspielreiz
Ständiges Auffüllen
der Gruften = Merkobjekte
Kaum Wartezeiten
Gedächtnisspiel für
alle Altersstufen
Hugo Kastner:
„Dicke Luft in der Gruft“ wird besonders in Familien wieder und wieder auf den
Tisch kommen, selbst wenn sich die Kinder manchmal bereits in ihre
„Schlafgruft“ zurückgezogen haben sollten. Dann legen eben die Eltern ihre
Vampire und Knoblauchknollen ab. Wie bei allen Merkspielen haben sowohl
Erwachsene als auch Kinder die gleichen Gewinnchancen.
Wenn Ihnen Sagaland
oder Memoryspiele gefallen, wird Ihnen auch Dicke Luft in der Gruft zusagen.