YS – eine Sage erzählt …

 

Bluff um Mehrheiten

 

 

Eines Tages vor langer Zeit ließ König Gradlon für seine Tochter Dahut die herrliche Stadt Ys errichten. Große Deiche schützten die Stadt gegen das Wüten der Gezeiten. Dahut beschloss, Ys zum mächtigsten Ort der Bretagne zu machen. Hierzu sandte sie Drachen los, um sich der Handelsschiffe zu bemächtigen, die beladen mit Edelsteinen die Küste von Ys passierten …

 

Mit dieser fast märchenhaft anmutenden Einleitung stellt der Autorenneuling Cyril Demaegd dem Spielerpublikum seine Stadt Ys vor, eine Welt des Zaubers und der Magie. Wer könnte einem Eintauchen in abenteuerliche, fremde Sphären schon widerstehen? Nun, um es gleich vorweg zu nehmen, die Drachen und Magier sind es nicht, die diese Spielwelt bevölkern. Ganz im Gegenteil, „Ys“ ist ein knochentrockenes Bluffspiel, ein Mehrheitengerangel von der ersten bis zur letzten Minute, wo die mystisch vorgestellten Personenkarten die trockene Funktion mathematischer Formelwerke verkörpern. Im Land Ys geht es um das Überlauern der Gegnerinnen, nach dem altbewährten und vielfach erprobten Prinzip Stein-Schere-Papier.

 

Die kreisrunde Stadt Ys, die den gesamten Spielplan dominiert, ähnelt einer Zielscheibe, oder einem Dartboard, um eine modernere Assoziation zu verwenden. Diese Scheibe ist in drei konzentrische Ringe unterteilt, bunt bemalt in Orange-, Gelb- und Blautönen. Die Ringe zerfallen ihrerseits wieder in vier Quadranten. Es gibt daher in der Stadt Ys insgesamt zwölf Viertel, die im weiteren Spiel durch Einsetzen von Mittelsmännern (engl. Brokers) für die eine oder andere Seite Gewinne abwerfen sollen. Der äußerste Ring symbolisiert eine Hafengegend, der mittlere steht für Geschäftsleben und den innersten ziert in jedem Viertel ein Palast. Neben der Stadt versteckt sich ein kleiner 4 x 4 Felder großer Markt, sowie eine fünfzehnteilige Markierungsleiste für die Wertedarstellung von blauen, grünen, gelben und roten Edelsteinen. Eine Kramerleiste, ein Rundenzähler, vier Ablageplätze und ein nur in einer Spielvariante verwendeter „Thronsaal“ (ein ockerfarbenes Rechteck; Anm. d. Verf.) ergänzen die Spielfläche. Sie sehen vielleicht schon aus dieser Kurzbeschreibung, dass „Ys“ mehr den Hauch des Wirtschaftens, des alltäglichen Aufs und Abs der Warenbörsen und des hemmungslosen Maximierens von Erträgen in Ihr Zuhause bringt, als sagenumwobene Zeiten der Prinzessinnen und Drachen. Echtes spielerisches Leben müssen Sie dieser Welt schon selbst einhauchen. Zunächst nehmen Sie aber erst einmal einen Sichtschirm, elf Mittelsmänner (schön geformte Spielzylinder, die zuvor mit Klebepunkten von 0 bis 4 versehen werden) und so genannte Spielreihefolgekarten zur Hand. Außerdem empfiehlt das Regelheft, die 24 „mächtigen“ Personenkarten (Alchemist, Kardinal, Spion, Herold, Intrigant, Söldner etc.) vorweg zu mischen und je drei davon verdeckt auf die entsprechenden Felder des Spielplans zu platzieren. Der Rest wird unbesehen in die Schachtel zurückgelegt. Zudem muss ein kleiner Stapel mit Schiffskarten sowie ein riesiger Haufen von Edelsteinen aus den Farben gelb, grün, rot, blau und schwarz neben dem Spielfeld bereitgehalten werden. Letzte vorbereitende Handlung: je ein farblich passender Edelstein kommt auf die Startfelder der Wertungsleiste. Nun geht es ins harte Geschäft, also volle Konzentration.

 

Das Leben und Treiben in Ys zerfällt in vier Runden zu jeweils vier Phasen. Diese werden von allen Spielern vollständig durchgespielt, bevor die Spieler in die nächste Phase vorstoßen. (1) Phase 1 ist ein mehr oder weniger starrer Handlungsablauf. In jedem Viertel der Stadt wird die oberste Personenkarte aufgedeckt; in jedes Hafenfeld kommt eine offene Schiffskarte zu liegen, die drei Edelsteine zeigt (einen davon mit doppeltem Wert), die es in der Folge zu erwerben gilt. Auch der Markt wird durch Anbieten von Edelsteinen attraktiv gemacht. (2) In einer kurzen zweiten Phase muss die Spielreihenfolge festgelegt werden. Dazu platzieren die Spieler zwei ihrer elf Mittelsmänner zunächst verdeckt vor den Sichtschirmen und decken diese Spielfiguren dann gleichzeitig auf. Wer die höheren Werte bietet, hat die erste Wahl über die Reihenfolge der kommenden Phasen, das heißt, wann er ins eigentliche Spiel eingreifen möchte. (3) Die dritte Phase macht das Wesen dieses Spiels aus. Es geht um das Einsetzen der Mittelsmänner, in der in Phase 2 festgelegten Reihenfolge. Konkret handelt es sich jeweils um einen Doppelzug: ein Mittelsmann wird verdeckt gesetzt, einer offen. Jeder Spieler kommt dabei viermal zum Zug, setzt also acht seiner verbleibenden neun Mittelsmänner ein. In dieser Phase darf geblufft werden, hier füllen sich Stadt und Markt, wobei letzterer nur beschränkte Kapazitäten hat. Pro Marktfeld ein Mittelsmann muss reichen. Die Stadt dagegen kennt das Prinzip „unlimited business“, sie nimmt also unbeschränkt handlungswillige Bürger auf. Der letzte Mittelsmann folgt seinen Gefährten, die vor den Sichtschirmen offen der Dinge harren. (4) Den Abschluss macht die Abrechnungsphase. Alle Mittelsmänner werden Viertel für Viertel und Marktzeile für Marktzeile aufgedeckt und in ihrem Wert verglichen. Der Lohn ist vielfältig: Pro Stadtviertel darf zunächst der stärkste Spieler zwei Edelsteine gemäß der Schiffskarte wählen, der zweite einen, der dritte den letzten. Ein weiß abgebildeter Edelstein (eine Art Joker) wird sofort in einen der vier wertvollen, farbigen getauscht. Dann folgt die Prämie für die höchste Zahl an Stärkepunkten in der Hafengegend: ein schwarzer Edelstein, dessen fixer Wert von der Anzahl, die ein Spieler am Ende des Abenteuers Ys gesammelt hat, abhängt. Die Staffel (1-4-8-12-16-20-24) bringt bei sieben Stück maximal 24 Siegpunkte. Die Geschäftsgegend entlohnt den Topspieler unmittelbar mit drei „Gold“ (sprich Siegpunkten) auf der Kramerleiste, die Palastgegend immerhin mit einer der vielseitig verwendbaren Personenkarten. Diese werden im weiteren Spiel die Grundregeln immer wieder umstoßen und so für die nötige Turbulenz in Ys sorgen. Allerdings ist ihr Einsatz strikt geregelt, in Anzahl und Zeitpunkt des Agierens. Im Markt kauft die stärkste Zeile den ausliegenden Edelstein, die stärkste Spalte dagegen ermöglicht ein Verändern des Markpreises der vier Edelsteinsorten. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Einfluss. Zuletzt darf der beste Markttandler noch eine weitere Werteverschiebung eines einzelnen Klunkers um plus/minus 1 vornehmen. Bei Gleichständen entscheiden immer die drei Mittelsmänner vor dem Sichtschirm. Herrscht auch hier Gleichstand, ist die Nummer 1 der Spielreihenfolge der Tiebreaker. Zum Abschluss der Phase folgt noch das Aufräumen von Markt und Stadt. Alle Spieler starten die nächste Runde wieder mit elf Mittelsmännern hinter ihren Sichtschirmen und einer leeren, hoffnungsfrohen Stadt Ys.

 

Nach vier Durchgängen kommt es zur durchaus findigen Endabrechnung. Wer immer die meisten Stücke des zu diesem Zeitpunkt auf der Werteskala teuersten Edelsteins gesammelt hat, erhält 24 Siegpunkte, der nächst beste Spieler 18, der drittbeste 12 und der schwächste Spieler 6 Punkte. Der zweitteuerste Edelstein wird ähnlich abgerechnet, allerdings mit der Siegpunktstaffel bei 20 Punkten beginnend (20-15-10-5). Genauso funktioniert das Berechnungssystem bei den zwei weiteren Edelsteinen, mit einem oberen Wert von 16 bzw. 12 Punkten. Schließlich müssen auch noch die schwarzen Edelsteinsammlungen in die Wertung einfließen (siehe oben). Falls Sie das Spiel mit der (eher lauen) Variante „Die Gunst des Königs“ abwickeln, wird auch noch der „Thronsaal“, ein spezielles Feld, gewertet. Wer am Ende der Reise durch Ys die meisten Siegpunkte gehortet hat, ist der glückliche Gewinner des Spiels.

 

Kritische Augen erkennen sehr schnell die Stärken und Schwächen dieses französischen Werkes. Einerseits wird mit dem Doppelzug, einmal offen, einmal verdeckt, einiges, bei weitem jedoch nicht alles verraten. Hier kommen die Bluffkünste der Spieler voll zum Tragen, hier wird immer wieder versucht, durch gekonnte wie auch glückliche Entscheidungen beim Setzen sogar mit schwächlichen Mittelsmännern maximalen Ertrag zu erzielen. Spannung versprechen auch die sehr abwechslungsreichen, dennoch ausbalancierten Personenkarten, deren Einsatz noch dazu extrem variabel gehalten ist. Mittelsmänner können versetzt werden, Hafenkarten ausgetauscht, Edelsteine gehandelt, Erträge gesteigert und vieles mehr. Doch als kleine Einschränkung des Lobs muss die grafische Mehrdeutigkeit dieser Karten gesehen werden. Nicht weil dadurch das Spiel kippt, es bleibt ja Zeit, im Regelheft nachzulesen. Doch der Spielfluss treibt ohnehin nur mit wenigen Knoten, also ist jede Minute wertvoll und wichtig. Optisch schön, griffig und gut in der Hand liegend, schaffen auch die Edelsteine zunächst eine positive Erwartungshaltung. Allerdings wird beim „leisesten Sturm über Ys“, sprich einem Anstoßen am Spieltisch, oder einer unbeabsichtigten Erschütterung, die durch Edelsteine markierte Werteskala ganz unbeabsichtigt zu einer kaum wiederherzustellenden Rutschbahn. Ärgerlich und die Konzentration störend, muss man leider sagen! Schwierig und letztlich auch ein wenig mühevoll ist das permanente Memorieren der von den Mitspielern erworbenen Edelsteinchen, die ja am Ende einer Runde für immer hinter den Sichtschirmen verschwinden. Da deren Anzahl bei der Abschlusswertung entscheidend ist, muss diese Merkleistung wohl erbracht werden, will man nicht alles dem schnöden Zufall unterordnen. Irgendwie ist gerade dieses Element des Spiels bei uns zwiespältig  aufgenommen worden. Praktikabel ist in diesem Sinne „Ys“ zu dritt, da hier der Merkeffekt um Einiges reduziert wird. Die Kurzvariante „Ys Express“, die im Regelheft kurz vorgestellt wird, ändert ähnlich wenig am Gesagten wie die Profivariante „Gunst des Königs“. Ob die auf der Homepage (siehe WIN-Steckbrief) für Essen 2005 angekündigte Neuedition mit Regeln für zwei und fünf Spieler eine Neubeurteilung erfordert, muss man noch abwarten.     

 

Mein persönliches Fazit: Gerade bei diesem Spiel gibt es keinen Garantieschein auf einen gelungenen Spielabend. Viel hängt von der Stimmung der Mitspieler ab, von deren andauernder Lust auf ein mehr als einstündiges, bisweilen schwerblütiges Bluffen und Zocken, letztlich auch von deren Erwartungshaltung bei der Erstansicht dieses Mehrheiten-Newcomers. Die unmittelbar Emotionen weckende Farbenpracht des auf ähnlichen Prinzipien beruhenden „Morgenland“ (ursprünglich „Keydom“), die stimmige Einbettung in eine thematische Landschaft, wie sie Richard Breese mit seiner arabischen Palastwelt gelungen ist, fehlt bei diesem französischen Erstlingsprodukt von Cyril Demaegd jedenfalls vollkommen. Dafür entschädigt ein wenig das recht reizvolle Wechselspiel von offenem und verdecktem Setzen der unterschiedlich gewichteten Spielsteine, die noch dazu wunderbar in der Hand liegen. Hier bringt die grobe Berechnung von Wahrscheinlichkeiten und das gleichzeitige Ausbluffen der Gegner doch einiges an Spannung in den Spielablauf. Aber auch dieses Element kennen wir Viel-Spieler natürlich schon von den Sternbildscheiben und Schwarzen Löchern, die Tom Schoeps vor Jahren in seinem „Sternenhimmel“ präsentierte. Daher mussten wir bei den Testern von „Ys“ einen weiten Bogen von hellauf begeistert bis eher enttäuscht erleben. Auch der finale Showdown, das Herauslegen und Werten der Edelsteine, hat einen sehr mathematisch angehauchten Touch. Nun gut, immerhin ist Frankreich das Land eines Blaise Pascal, des Grandseigneurs der Wahrscheinlichkeitsrechung. Vielleicht sollte also einfach unser Blickwinkel leicht verändert werden, vielleicht müssen wir bei diesem Spiel erst die richtige Balance finden zwischen konzentriertem Rechnen, exaktem Memorieren und zweckfreiem Träumen. Vielleicht ist Ys aber auch eine wahrlich geheimnisvolle Stadt, die ihre volle Pracht nicht bereits beim ersten oder zweiten Besuch offenbart. Ich muss Sie wohl auf eine eher ungewisse Reise schicken …   

         

YS

Spieler:                 3-4  

Alter:                    ab 12 Jahren

Dauer:                  60-90 Minuten

Verlag:                  Ystari 2004

                            www.ystari.com

Autor:                   Cyril Demaegd

Grafik:                   Arnaud Demaegd

Preis:                    ca. € 45

 

WIN WERTUNG

Genre:                  Mehrheitenspiel  

Zielgruppe:            Experten

Mechanismus:        Mehrheiten sichern

Strategie:               *

Taktik:                  ****

Glück:                   ****

Interaktion:            ****

Kommunikation:     **

Atmosphäre:          ****

Kommentar:

Vielschichtiges Mehrheitenspiel

Interessante Bluffelemente

Starker Memoryeffekt

Schönes Spielmaterial

Hugo Kastner: „Ys“ wird Sie nicht in die düstere und mystische Fantasiewelt des Königs Gradlon und seiner Drachen entführen, wie in der Einleitung schwulstig beschrieben. Im Gegenteil, dieses Premierenprodukt des Verlags Ystari entpuppt sich schnell als ein nüchternes Bluff- und Mehrheitenspiel, bei dem alles und jedes einer intuitiv gefärbten Stein-Schere-Papier „Strategie“ unterliegt. Freunde dieses Spielprinzips kommen dennoch auf ihre Rechnung, so viel sei versprochen. Für alle anderen ist jedoch eine Kosten-Nutzen-Analyse sehr zu empfehlen. Dies auch mit einem Seitenblick auf ähnliche Spielprinzipien, die schon vor einigen Jahren die Spielwelt beseelten.

 

Wenn Ihnen „Morgenland“ (Richard Breese) oder „Sternenhimmel“ (Tom Schoeps) Spannung vermitteln, wird Ihnen auch „Ys“ zusagen.     

     

Hugo Kastner

hugo.kastner@chello.at