REEF ENCOUNTER – Leben im Korallenriff

 

Fressen und gefressen werden

 

Tauchen Sie ein in die Unterwasserwelt des Richard Breese! In diesem scheinbaren Paradies toben fortwährende Schlachten um den knappen, ständig bewegten Lebensraum. „Fressen und gefressen werden“ ist das ewige Motto des Lebens, dem sich alle Bewohner unterordnen müssen, egal ob Korallen, Krabben, Algen oder die ungemein gefräßigen Papageienfische. Richard Breese simuliert in seinem neuen Spiel den Kreislauf des Lebens im bunten Korallenmeer. Reef Encounter ist keine Fortsetzung der „Key“ Serie, fürwahr, also kein „Key West“ oder dergleichen. Dennoch wurde hier ein weiteres Meisterwerk aus der Hand des englischen Kreativkünstlers geschaffen. Letzteres Wort bezieht sich ausschließlich auf die bisher vorgelegten Spielerlebnisse des Mannes aus Stratford-upon-Avon.

Wie kann das Spielziel in den Turbulenzen der Korallenwelt aussehen? Sehr einfach, wie von der Natur vorgezeichnet, gilt es, die größten Korallenbänke zu entwickeln und diese dem eigenen Papageienfisch zu verfüttern. Das hört sich machbar an, ist jedoch auf Grund der unterschiedlichen Stärke der Korallen ein äußerst diffiziles Unterfangen. Ständig ändert sich der Bewuchs der Felsen, ständig pendelt die Korallengröße, ständig mangelt es an schützenden Krabben, und vor allem wechselt ständig die Rangfolge der fünf Korallenarten. Kaum glauben Sie sich dem Ziel nahe, verschwindet einer Ihrer Hoffnungsträger aus den Augen. Fast grausam, wie schnell sich die Felsenwelt ändert. Am Ende zählen die gefressenen Polypenplättchen (aus denen Korallen bestehen), sowie die Stärke der jeweiligen Korallenart. Genau diese Verknüpfung von Macht und Materie gibt diesem Spiel den entscheidenden Spannungsfaktor. Aber dazu mehr im Abschnitt Einschätzung und Kritik.

Der Spielaufbau nimmt einige Minuten in Anspruch. Je nach Spielerinnenzahl (2 bis 4 dürfen sich in die Korallenwelt verirren) werden zwei, drei oder vier blanke „Felsen“ als Ankerplätze der Korallen verwendet. Je eine violette, orange, gelbe, weiße und graue Koralle setzt sich auf jedem der Felsen an speziell markierten Plätzen fest. Runde Algensteine in vier Farben (blau, grün, lila und rot, jeweils dunkel gehalten), mit denen im Verlaufe des Spiels die Rangordnung der Korallen gesteuert wird, werden bereitgehalten. Auf einem speziellen „Meeresplan“ geben zehn so genannte Korallenplättchen an, ob etwa die violetten Korallen stärker sind als die weißen, oder die grauen über die gelben dominieren. In der Ausgangslage hat jede Farbe genau zwei starke und drei schwache Verteilungen. Larvenwürfel, kleine in der Farbe der Korallen gehaltene Kuben, markieren fünf der Meeresfelder, die als Nachzugplätze für die insgesamt 200 Polypenplättchen dienen. Lassen Sie sich nicht gleich verwirren, Polypen bauen, wie gesagt, nur die Korallen auf, sind also ein Bestandteil dieser Meeresbewohner. Außerdem brauchen die Spielerinnen die unscheinbaren Larvenwürfel, um später ihre Korallen zu züchten, also Polypen auf den Felsen fest zu setzen, und die Korallen tentakelartig zu erweitern. Zuletzt bekommt jede Spielerin einen Sichtschirm, vier Krabben in persönlich gewählter Farbe, zwei Larvenwürfel sowie, abhängig von der Spielerinnenzahl, zwischen sechs und neun Polypenplättchen. Nun sind Sie technisch ausgerüstet für ein erstes Eintauchen in den Überlebenskampf des Meeres.

Wer am Zug ist, darf aus zehn zunächst kaum überschaubaren Aktionen wählen. Fünf davon (Aktionen 1 bis 4, sowie 10) dürfen nur einmal pro Spielzug durchgeführt werden, fünf weitere in beliebiger Häufigkeit. Grundsätzlich gilt, dass eine Aktion abgeschlossen sein muss, bevor die nächste beginnt. Mit einer Ausnahme: Krabben können sich immer frei über die Felsen bewegen. Auch die Reihenfolge der Aktionen ist frei wählbar, abgesehen von der ersten und der letzten. Wie sehen die zehn Aktionen im Einzelnen aus: (1) Der Papageienfisch verschluckt eine der Korallen in seinem dicken Bauch. (2) Bis zu vier Polypenplättchen einer Farbe setzen sich auf den Felsen fest, in beliebiger Verteilung. (3) Wieder dürfen vier Polypenplättchen einer Farbe ihren Lebensraum suchen. (4) Genau eine Krabbe kommt ins Spiel und schützt damit die eigenen Korallen. (5) Krabben dürfen frei auf den Felsen krabbeln, beliebig oft, beliebig weit, ja sie dürfen sogar ihren Lebensraum verlassen. (6) Gefressene Polypenplättchen, die vor dem Sichtschirm ausliegen, können gegen einen Larvenwürfel der gleichen Farbe getauscht werden. (7) Mit einem Polypenplättchen (vor dem Sichtschirm) kann ein Algenstein erworben werden. Dieser wird sofort eingesetzt, um die Kräfteverhältnisse zwischen den Korallen zu verschieben, oder starke Korallen zu fixieren (siehe unten.) (8) Ein Larvenwürfel darf gegen ein Polypenplättchen der gleichen Farbe eingetauscht werden. (9) Keine der genannten Aktionen wird durchgeführt. Und schließlich wird (10) vom Meeresplan ein Larvenwürfel mit den dazu gehörigen Polypenplättchen aufgenommen und hinter den Sichtschirm platziert. Diese letzte Aktion ist als einzige obligatorisch.

Sie können sich noch nicht an dieses Spiel heranwagen, kleine Warnung zwischendurch. Reef Encounter verlangt einiges an Spielverständnis, um aussichtsreich in Angriff genommen zu werden. Dazu gleich der entscheidende Regelhinweis: Sie sollten während Ihres Spielzugs trachten, Polypenplättchen, die ungeschützt sind, zu fressen und vor Ihrem Sichtschirm abzulegen. Was heißt ungeschützt und wie geht dieser Fressvorgang vor sich? Ganz einfach: Krabben ruhen auf einem der Polypenplättchen und schützen dieses genauso wie alle horizontal oder vertikal anschließenden Polypen der jeweiligen Koralle. Maximal können also fünf Plättchen auf einmal durch eine Krabbe „abgedeckt“ werden. Jede Koralle darf nur von einer einzigen Krabbe bewohnt werden, jeder Felsen maximal von zwei Krabben einer Spielerin. Die Schutzmöglichkeiten sind also begrenzt. Alle weiteren Polypen, egal ob von eigenen oder gegnerischen Korallen, sind in großer Gefahr, gefressen zu werden. Es genügt, wenn zwei Polypen (anderer Farbe) benachbart eine Koralle bilden und diese neue Koralle stärker ist, als die bisher gebildete. Möchte die neue Koralle wachsen, eben durch Auslegen eines weiteren Polypen, frisst sie das schwächere Polypenplättchen einfach auf. Über die Stärke der Korallen entscheiden ausschließlich die zehn auf dem Meeresplan ausliegenden Korallenplättchen und keinesfalls die Größenverhältnisse der Korallen auf den Felsen. Auch die Korallenplättchen bedürfen einer genaueren Beschreibung. Die quadratischen Plättchen bestehen aus drei Feldern (ein Doppel, zwei Einzelfelder), zwei davon in den Korallenfarben violett, orange, gelb, weiß und braun. Dabei steht jeweils das Doppelfeld für die mächtigere Koralle, das Einzelfeld für die schwächere. Das letzte kleine Quadrat ist für die Algensteine reserviert, daher in deren Farbe markiert. Wann immer ein solcher Stein auf den Meeresplan gesetzt wird, müssen alle gleichfarbigen Korallenplättchen umgedreht werden. Das macht Sinn, zeigen doch die Rückseiten die exakt konträren Stärkeverhältnisse der Korallen an. Außerdem dürfen die Spielerinnen mit einem Algenstein auch eines der Korallenplättchen fixieren, das heißt die Stärkeverhältnisse bis zum Spielende einfrieren. Die übrigen Korallenplättchen müssen allerdings auch in diesem Fall entsprechend der Farbindikation umgedreht werden. Nun, das ist es, was die Regeln in Kurzform besagen. Ich hoffe, Sie sind auch jetzt noch voll der Zuversicht, die Felsbänke mit Ihren Korallen zu bevölkern. Es lohnt sich allemal, so viel muss ein erfahrener Meeresfreund gestehen.

Beim ersten Lesen der Spielregel werden Sie wahrscheinlich das Gefühl haben, nicht wirklich genau zu verstehen, wo Sie mit Ihren Polypen, Krabben, Algensteinen, Larven und Papageienfischen hinsteuern sollen. Zu ungewöhnlich ist das Vokabular, zu vielfältig sind die Aktionen, zu verzahnt die Interaktionsmuster. Dies ist auch der erste Ansatzpunkt für meine Kritik. Reef Encounter ist einfach so vielschichtig, und ich war in unserer Spielrunde der Regelexplorer, dass dieses Phänomen der Verwirrung unumgänglich scheint. Ich darf aber aus eigener Erfahrung behaupten, dass nach dem ersten „Korallenabend“ deutlich wird, dass jedes Wort der Regel an seinem Platz steht und zudem sehr genau die Möglichkeiten dieses Spiels widerspiegelt. Erst beim zweiten Eintauchen wird Reef Encounter zum Erlebnis, trotz oder gerade wegen der ungeheuren Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Wachstum der Korallenbänke, auf das Setzen der Algensteine und zuletzt auf das Fressen durch den  Papageienfisch. Es gibt hier eine Reihe von Gewinnstrategien, die noch dazu aktive wie passive, konstruktive wie destruktive Spielzüge erlauben. „Kein Vorteil ohne Nachteil“, scheint das Gesetz des Meeres zu suggerieren. Wer sich früh die besten Plätze für seine Korallenbänke aussucht, wird bald das Opfer gefräßiger Nachbarn werden. Wer lange mit der Gründung von Korallenkolonien wartet, wird vom jähen Ende überrascht. Der vierte Fressvorgang des Papageienfisches oder das Fixieren aller zehn Korallenplättchen führt nämlich bei Reef Encounter zur Wertungsphase. Zu große Korallenbänke einer Spielerin veranlassen die Gegnerinnen meist dazu, diese Korallen durch Setzen entsprechender Algensteine schwach und damit angreifbar zu machen. Wer sehr früh erntet, kann seinem Papageienfisch nur wenige Polypen verfüttern. Wer nur bei den gegnerischen Korallenkolonien knabbert, schafft oft kein ordentliches Wachstum der eigenen Kolonien. Und nicht vergessen werden darf auch, dass die Zahl der Polypenplättchen pro Farbe begrenzt ist. Bauen alle die gleichen Korallenbänke, müssen diese zwangsläufig klein bleiben.

All diese Faktoren scheinen das Chaos in den Meerestiefen unumgänglich zu machen. Und doch möchte ich behaupten, dass Reef Encounter in erster Linie ein strategisch-taktisches Spiel ist. Wer besser plant, hat gute Chancen, in diesem Überlebenskampf die Oberhand zu behalten. Ein paar Tipps mögen hier helfen: Eine erste frühe Ernte hilft beim Setzen des Algensteins. Die günstigsten Brutplätze sind die Randfelder, da sie leichter durch Krabben zu schützen sind als das Zentrum, das andererseits wiederum Extrapolypen auf die Felsen bringt. Polypenplättchen sollten immer in ausreichender Zahl auf ihren Einsatz warten. Es ist absolut notwendig, durch geschicktes Fressen, eventuell sogar der eigenen Polypen, möglichst jederzeit den einen oder anderen Polypen vor dem Sichtschirm zu haben. Im Extremfall kann es sogar vorkommen, dass eine gegnerische Koralle zum Wachsen gebracht wird, um im gleichen Spielzug einen Teil davon auch schon wieder aufzufressen. Sie sehen, die Möglichkeiten dieses Spiels sind fast unbegrenzt und lassen eineinhalb bis zwei Stunden des ungewohnten Tiefgangs erahnen.     

Mein persönliches Fazit: Reef Encounter war für mich eine echte Entdeckung. Nach längerer Zeit wurde ich nach einem Spielabend wieder einmal in wunderbare Tagträume versetzt. Hierzu hat sicher auch die detailreiche und liebevolle Gestaltung dieses Spiels durch Juliet Breese beigetragen. Zugegeben, die blassen Pastelltöne, besonders die farbliche Nähe von „weiß“ und „grau“, mögen eine eigenwillige Entscheidung der Zeichnerin sein. Ich persönlich jedoch finde diese „milchglasartige“ Wiedergabe der Korallenwelten hervorragend gelungen. Auch die Myriade strategisch-taktischer Möglichkeiten wollte mir schon beim ersten Erleben einfach nicht aus dem Kopf gehen. Kann man als Freund des Expertenspiels einem Autor ein größeres Kompliment machen? Nun, Voraussetzung für diese Sichtweise ist Ihr Verlangen nach einem tiefen Eintauchen in die Unterwasserwelt der Korallenriffe.

 

REEF ENCOUNTER

Spieler:                 2-4 

Alter:                    ab 10 Jahren

Dauer:                   60-120 Minuten

Verlag:                  R&D Games 2004

Autor:                   Richard Breese

Graphik:                Juliet Breese

Übersetzung:         Barbara Dauenhauer

Preis:                    ca. € 40

 

WIN WERTUNG

Genre:                   Strategisch-taktisches Legespiel

Zielgruppe:            Experten

Mechanismus:        Plättchen „fressen“

Strategie:               ****

Taktik:                  *****

Glück:                   **

Interaktion:            ****

Kommunikation:     *

Atmosphäre:          ******

 

Kommentar:

Vielseitige, verzahnte Mechanismen

Exzellente Mischung konstruktiver und destruktiver Spielelemente

Ausgeprägt strategisch-taktischer Aufbau

Interessante graphische Gestaltung

 

Hugo Kastner: Wir haben uns begeistert in die Korallenwelt des Richard Breese eingelebt. Durch die Vielzahl der ständig wechselnden Zugmechanismen verläuft keine Partie wie die andere. Reef Encounter erlaubt zudem verschiedenste Strategien, die bereits vom ersten Moment weg geplant werden wollen. Durch die ständigen Störmanöver der Mitspielerinnen ist aber auch taktische Flexibilität gefragt. Wenn Ihnen anspruchsvolle, dennoch jedoch durch ein Thema unterlegte Spiele zusagen, sollten Sie bei den noch wenigen Ausgaben, die der Markt hergibt, unbedingt zugreifen. Mich erinnert dieses Spiel ganz entfernt an das exzellente Euphrat & Tigris.     

 

Wenn Sie gerne komplexe Legespiele mit biologischen Themen spielen und englische Regeln nicht scheuen, wird Ihnen Reef Encounter gefallen.

    

Hugo Kastner

hugo.kastner@chello.at