Midgard – das Brettspiel
Heute begeben wir uns auf
eine Zeitreise in die Vergangenheit, zumindest fühlt man sich so. Lutz
Stepponat, im Fantasy-Spielebereich etwa mit „Rückkehr der Helden“ (Pegasus
Spiele 2003) inklusive Fortsetzungen fest verankert, hat das nach allen Angaben
erste deutsche Rollenspiel Midgard (von Jürgen Franke, 1978 als Empires of
Magira, seit 1981 unter dem gängigen Namen aus der germanischen Mythologie in
zahlreichen Editionen aufgelegt) hergenommen, geschüttelt, gerührt, und als Brettspiel
auf den Markt gebracht.
Ziel des Spieles ist im
engeren Sinne das Erringen von fünf Prestigepunkten – wem dies als erstem
gelingt, obsiegt, die Spielerin oder der Spieler wird zur Legende erklärt
(wünscht sich die Spielregel). Im weiteren Sinne, so ist einem Interview mit
dem Spieleautor zu entnehmen (Quelle: http://www.fantasyguide.de/3204.0.html
vom Oktober 2006, aufgerufen im Jänner 2008), will das Spiel einen hohen
Komplexitätsgrad und oftmaliges Wiederspielen ermöglichen, ohne, wie etwa beim
klassischen Rollenspiel, mehrere Abende für ein Abenteuer verplanen zu müssen.
Midgard verspricht somit einen kompakten und dennoch komplexen Spielspaß mit
großer Variationsbreite.
Bereits das Spielbrett ist
in gewisser Weise variabel, insofern als es sich aus zwölf Stadtkarten
zusammensetzt. Diese Siedlungen sind an Orte aus mehreren Modulen des
Rollenspiels angelehnt, und das Regelheft enthält drei Vorschläge für deren
Anordnung. Den Spielern liegt die Zusammensetzung jedoch völlig frei, solange
nur jede Stadtkarte mindestens eine Seitenkante einer anderen
Stadtkartenseitenkante vollständig berührt.
Neben diesen Stadtkarten
und der Spielregel enthält Midgard zehn Charakterbögen und zehn ausgestanzte
Charakterfiguren aus Karton, zwei 20-seitige Würfel aus Kunststoff, etliche
Erfahrungspunktwürfel (Holz), Kartonmarken für Lebenspunkte, Goldstücke,
Prestigepunkte, Zahlenmarken, Begegnungs-, Schatz-, und Sondermarken, sowie
eine kaum zu überschauende Menge an Spielkarten für Aktionen, Waffen,
Rüstungsteile, Gepäck, Sonderschätze, Zaubersprüche, Fertigkeiten, Ereignisse,
Abenteuer, Abenteueraufgaben und Endgegner (Schatten genannt). Vor allem diese
Spielkarten unterscheiden sich voneinander lediglich durch Titel und Farbe der
Rückseiten, im Falle der Abenteuer und Schatten ist nicht einmal von Anfang an
klar, was Rück- und was Vorderseite ist.
Grundsätzlich sympathisch
und dem Midgard-Rollenspiel direkt entlehnt ist die große Freiheit bei
Charakter- und Ortswahl. Die zehn vorgegebenen Charaktere, für die auch
Spielfiguren vorhanden sind, teilen sich auf fünf Charakterbögen auf, da jeder
dieser Bögen einen weiblichen oder männlichen Abenteurer (jeweils auf einer
Seite des Bogens) anbietet. Selbst eine Spielrunde, die sich nur aus
Kriegerinnen und Kriegern, oder Spitzbuben und Bardinnen zusammensetzen will,
ist möglich. Zu diesem Behufe bieten die übrigen fünf Charakterbögen neutrale
Datenraster und ein sehr einfaches System, den Wunschcharakter zu erschaffen.
Jeder Charakterfigur werden nun die vorgegebenen (im Falle der neutralen,
selbst geschaffenen Charaktere: gewählten) Ausrüstungskarten (Waffen,
Rüstungen, andere Gegenstände, Eigenschaften, Fertigkeiten, eventuell
Zaubersprüche) neben dem Charakterbogen zurechtgelegt. Die Spieler nehmen nun
verdeckt je vier Aktionskarten.
Eingeschränkte Freiheit
herrscht sodann beim Aufbau des Spieles, sobald eine Städtekartenlandschaft,
will sagen ein Spielplan ausliegt. Nun muss ein Teil der Abenteuermarken
(Begegnungs-, Schatz-, Gebäudemarken), die so genannten festgelegten Marken,
auf die ihnen zugedachten Stadtkarten (durch übereinstimmende Nummern
kenntlich) platziert werden, der Rest (zufällige Marken) wird auf die übrigen
freien Plätze verteilt. Dies bietet im weiteren Spielverlauf eine Mischung aus
Überraschung und Berechnung, die Beurteilung dieses Verhältnisses darf jeder
Spielerin und jedem Spieler selbst überlassen werden. Für Anfängerspiele
scheint es jedoch hinlänglich ausgewogen. Danach wird jede Charakterfigur auf
ein selbst gewähltes Startfeld, eine beliebige Stadt, gesetzt, und das
eigentliche Spiel beginnt. Die Aufbauarbeiten haben ohnedies Zeit genug in
Anspruch genommen.
Die Aktionskarten
bestimmen, wie in der laufenden Runde verfahren wird. Zuerst wird eine Karte
ausgespielt, um festzulegen, wie viele Aktionen der Spieler durchführen darf
(individuell zwei bis vier). Die Aktionskarten bieten verschiedene
Möglichkeiten, die meisten haben eine Spezialaktion, zum Beispiel erhöhen sie
je einen Wert für einen Kampf, liefern ein Würfelergebnis, oder ermöglichen
einen Glücksgriff. Das Ausspielen solcher Aktionskarten kostet keinen
Aktionspunkt. Fast alle Aktionskarten können auch zum Heilen von Verwundungen
eingesetzt werden (was allerdings einen Aktionspunkt der erstgespielten Karte
kostet).
Die Bewegung wird ebenfalls
als Aktion gezählt. Von Stadtfeld zu benachbartem Stadtfeld kostet es je eine
Aktion; daneben gibt es noch freie Bewegungspunkte, durch Reittiere und
dergleichen. Ob sich dadurch vielleicht die Möglichkeit einer eigenständigen
gleichsam kostenfreien Bewegung bietet, oder ob das Adjektiv „zusätzlich“
absolut zu setzen sei, gibt durchaus Raum für Verhandlungen. Aktionen sind
weiters das Aufnehmen oder Aufdecken einer Marke oder Karte, das Ablegen einer
Karte (heißt einen Auftrag erfüllen), das Steigern einer Eigenschaft, der
Erwerb einer (neuen) Fähigkeit oder die Reparatur eines Gegenstandes
(ortsspezifisch), Ankauf, Verkauf, Tausch und Diebstahl. Landet man zufällig im
Gefängnis, dem Turm (was öfter passiert als bei DKT), kostet das Entrinnen
daraus zwei Aktionspunkte, und dann ist der Zug trotzdem zu Ende.
Das Spielziel, den Erwerb
von Prestigepunkten, können die Abenteurer und –innen auf vielerlei Arten
erreichen: Schätze sammeln, Artefakte entdecken, Endgegner (Schatten) besiegen,
Abenteuer bestehen, durch Erfahrungspunkte als erster einen Grad aufsteigen,
oder als erster den Höchstwert einer Eigenschaft erreichen (Schönheit oder
Hässlichkeit zählt nicht dazu; Reichtum übrigens genauso wenig).
Hier erblicken wir bereits
das Problem der Nomenklatur im Spiel. Eine Aufgabe zu erfüllen beinhaltet in
den meisten Fällen, eine Marke von A nach B zu bringen oder einen kurzen Kampf
auszufechten. Ein Abenteuer besteht man (Zusammenschlüsse der Spieler sind zu diesem
Zwecke möglich, nötig und erwünscht), indem man die Anweisungen einer
Abenteuerkarte ausführt. Dies wiederum bedeutet, die Bedingungen dreier
zufällig gezogener Abenteueraufgaben (dreier Abenteueraufgabenkarten) zu
erfüllen. Das Abenteuer (Karte mit Titel; der Name entspricht jeweils einem
Rollenspielmodul) gipfelt in einem Endkampf, wobei die Abenteueraufgaben meist
Kämpfe oder Probewürfe mit dem W20 verlangen. Wird ein Abenteuer erfolgreich
abgeschlossen, taucht an irgendeiner Stelle des Spielplans (die große Freiheit
Nummer 7 – von einem beliebigen Spieler, der das Abenteuer bestanden hat,
gezogen und nach eigenem Gutdünken deponiert, jedoch nicht in Städte, in denen
bereits eine Abenteuerkarte ausliegt) ein Schatten auf.
Hier klingt das noch viel
einfacher, als es sich im Verlauf des Spieles darstellt, denn die Spielregeln,
die in erster Lesung wohlstrukturiert und klar erscheinen, entpuppen sich, mit
einzelnen Situationen konfrontiert, als wenig übersichtlich, nicht immer
hilfreich, und sogar widersprüchlich. Umstände, die vermeintlich erklärt
werden, wiederholen bei genauerer Betrachtung bisweilen lediglich den Text der
Spielkarte.
Die im Spielmaterial
enthaltenen Kurzspielregeln geben leider nur Auskunft darüber, was man mit
seinen Goldstücken anstellen kann oder wie man zu Prestigepunkten kommt. Gerade
das findet man aber im ausführlichen Regelheft auf Anhieb. Sinnvoller wäre es
gewesen, eine strukturierte Kurzregel beizulegen.
Selbst die im Internet zur
Verfügung gestellte Erklärungsseite (http://www.phantastische-spielewelten.de/FAQv1.01.pdf)
gibt letztendlich nur eine neue Information preis: Drei Spielkarten tragen
falsche Titel und werden jetzt richtig zugeordnet. * „Kapuze“ meint die Karte
„Tarnumhang“, „Macht über die Sinne“ findet sich als „Macht über Menschen“
wieder, „Göttlicher Blitz“ trägt als Spielkarte den Titel „Elfenfeuer“. Alle
drei falschen Namen sind darüber hinaus peinlicherweise Teile der
Grundausstattung der vorgegebnen Charaktere.
Dafür findet man unter
http://www.phantastische-spielewelten.de/ ein „Designtagebuch“ – naja, bitte,
wen’s freut.
Der bereits erwähnte
Kampf-, Zauber- und Probewurfmechanismus hingegen ist einfach, und praktisch
immer gleich: einen 20-seitigen Würfel werfen, den entsprechenden Attributswert
und gegebenenfalls Bonuspunkte aus Karten oder Marken addieren, und das
Ergebnis vergleichen – entweder mit einem vorgegebenen Wert (bei
Begegnungsmarken, Abenteueraufgaben, Abenteuerendgegnern, Schatten und so
weiter) oder mit dem Wurfergebnis einer Mitspielerin oder eines Mitspielers
(meist die rechte Nachbarin oder rechter Nachbar, außer, sie oder er gehört der
eigenen Gruppe an). Grundsätzlich gilt, dass ein Ergebnis von 20 genügt. Ist
der gerollte Würfelwert selbst 20 (natürlicher Zwanziger), reicht das automatisch
(außer, der Gegner erzielt ebenfalls einen natürlichen Zwanziger). Auch hier
lassen die Regeln leider Interpretationsspielraum, ob dies auch bei Schatten
gilt. Die sind von den Kartenwerten her allerdings ohnedies beinahe
übermächtig, an sie wird sich nur ein Charakter wagen, der entweder mindestens
drei ihn unterstützende Begleiter mitbringt, oder alle Attribute auf ihr
Maximum gesteigert hat, oder der Charakter nähert sich in selbstmörderischer
Absicht dem beinahe sicheren Ende.
So läuft das Spiel in Runden
ab, und jeder werkelt meist für sich alleine dahin. Manchmal spannen
günstigerweise mehrere Spieler ihre Charaktere zu einer Gruppe zusammen, die
Gruppen zerfallen danach meist aber sogleich wieder, oder ziehen in der
folgenden Runde unter geänderter Führung dem nächsten Auftrag entgegen. In den
durchgeführten Testläufen gewann stets, wer heimlich still und leise auf
unspektakuläre Art Prestigepunkte hamsterte, ob als Teil einer Gruppe oder für
sich allein.
Midgard jedenfalls setzt
sich durch einen sehr hohen kommunikativen Anteil am Spielgeschehen von der
Masse anderer Fantasybrettspiele neuerer Generation ab. Diese Kommunikation ist
meist positiver Art, soll heißen, außer durch die Aktionen Diebstahl und
Überfall (und gelegentlich eine Aktionskarte gleicher oder ähnlicher Intention
um einen Gegenstand eines Mitkämpfers an sich zu bringen) erlaubt die
Spielregel keinerlei Konfrontation der Charaktere miteinander. Noch dazu tragen
diese Ausritte der gewalttätigen Art ein besonderes Stigma: die Marke „Diebstahl“
oder „Überfall“ erinnert die Mitspieler so lange daran, dass da ein wenig
vertrauenswürdiger Halunke mit am Spieltisch sitzt, bis jener bereit ist, zwei
Aktionspunkte für die Entfernung dieses Schandmals aufzuwenden.
Eher unfreiwillige
Kommunikation entsteht jedoch auch durch die Interpretationsbedürftigkeit
einiger Teile der Spielregeln. Anders als beim Rollenspiel, gibt es hier keinen
Spielleiter (in der Midgard Welt war dieser ohnedies schon eher als Vermittler
denn als Diktator angelegt), der notfalls eine Entscheidung trifft, bis man
beim nächsten Spieleabend doch noch eine Lösung im Regelbuch gefunden haben
könnte. Demokratiepolitisch mögen Grundsatzdiskussionen wertvoll sein, an einem
zur Entspannung angelegten Spieleabend, besonders, wenn nur zehn Stunden bis
zum Arbeitsantritt zur Verfügung stehen, verzichtet man im fortgeschrittenen
Alter doch ganz gerne auf diese Relikte der siebziger Jahre.
Dem Rollenspielvorbild
geschuldet ist ebenfalls die zwar stetige Zunahme an Erfahrungspunkten und
dadurch die Möglichkeit zum Erwerb neuer Fähig- und Fertigkeiten, in einem an
sich abgeschlossenen, auf variierte Wiederholung angelegten Spiel bringt das
jedoch herzlich wenig. Vielleicht aber schaffen da die für Herbst 2008
angekündigten Erweiterungen – ein Solospiel (Arbeitstitel) und die Erweiterung
„Die Wildnis ruft“ für den Jahreswechsel 2008/09 – neue Möglichkeiten.
Es bleibt zum Beispiel noch
zu überprüfen, ob die von Lutz Stepponat erhobenen Ansprüche eingelöst werden,
einerseits „den Rollenspielern einen Rahmen geben“, anderseits: „Wir packen
einfach das »Städte, Schätze, Abent[e]uer« [Arbeitstitel 2006; Anmerkung MML]
aus und spielen einfach. Dann kann es mal passieren, dass wir 4 Stunden spielen
oder 5 Stunden, das kann sich einfach jeder aussuchen. Damit ist dann aber ein
Abschluss da und wir haben einen schönen Abend gehabt.“ (zitiert nach http://www.fantasyguide.de/3204.0.html
vom Oktober 2006, aufgerufen im Jänner 2008).
Mit Midgard ist für
rollenspielmüde Rollenspieler zweifellos ein Rahmen und mit den zahllosen
Marken, Markern und Karten auch ein Ersatz für Zettel und Bleistift geschaffen
worden. Auch mit der Einschätzung des Zeitrahmens lag er im Oktober 2006 nicht
ganz falsch, selbst wenn der Verlag diese Ankündigung wohl als zu abschreckend
empfand (Aufdruck: 90 – 120 Minuten; möglich, wenn man gleich als Gruppe
kollektiv Selbstmord begeht), und sich die Zusammensetzung jenes Zeitbudgets
wohl leicht verschoben zu Stepponats Idee entwickelt hat (Aufbau des Spiels und
reine Spielzeit teilen sich da beinahe 1 : 4). Ein schöner Abend kann es mit
„Midgard – das Rollenspiel“ durchaus werden, wenn die Spielregeln noch einmal
ordentlich gestrafft, strukturiert und übersichtlich neu erstellt werden.
Zuletzt sei angemerkt, die
grafische Gestaltung bedarf keiner großen Korrekturen. Dankbar wäre man
freilich, ließen sich die Rückseiten der Karten auch farblich leichter
unterscheiden, oder würden die Kategorien (Ausrüstung, Rüstung & Waffen,
Gepäck scheint ein bisschen viel des Guten) eingeschränkt oder auf andere Art
voneinander abgesetzt. Unverändert verströmt die Ausstattung nämlich weiterhin
den Charme eines Spieles aus den mittleren achtziger Jahren des verflossenen
Jahrhunderts. Das hat andererseits auch etwas für sich.
Martina & Martin
Lhotzky
Marcus Steinwender
Spieler: 3 bis 5
Alter: ab 12 Jahren
Dauer: 4-5 h
Autor : Lutz Stepponat
Grafikkoordinator : Hans Schneider
Vertrieb : Heidelberger Spieleverlag
Preis : ca. € 36,00
Verlag : Verlag für F & SF-Spiele / Heidelberger Spieleverlag
www.phantastische-spielewelten.de
Fantasy-Brettspiel
Freunde
Abenteuer bestehen, Ressourcen einsetzen
Strategie: ***
Taktik: ****
Glück: ******
Interaktion: *******
Kommunikation: *******
Atmosphäre: *****
Kommentar:
Atmosphäre sehr schön
eingefangen
Überkomplette Ausstattung
Regeln nicht optimal
Eher glücksabhängig
Vergleichbar:
Das Schwarze Auge
Drachenjäger von Xorlosch
Das Schwarze Auge Der Weg
nach Drakonia
Dungeons & Dragons Das
Fantasy Abenteuerspiel
Martina, Martin und Marcus:
Ein mitunter langwieriges
Brettspiel, das dennoch viele Eigenschaften eines Rollenspieles anbietet.
Verschiedene Abläufe und besonders die Spielregel bedürfen noch ausgiebiger
Nachbearbeitung. Kommunikation und Kooperation stehen bei Midgard an vorderster
Stelle, am Ende kann dennoch nur eine Person gewinnen.