Unsere Rezension
Ich möchte ein Eisberg sein
SOS TITANIC
Lieber einsam statt gemeinsam
Die Idee des kooperativen Spiels lockt ja mit dem unausgesprochenen Versprechen einer heilen Spielewelt: Gemeinsam lösen wir in gleichberechtigter Weise packende Aufgaben, trösten einander bzw. muntern uns bei Rückschlägen und Enttäuschungen auf, und fiebern dem Ausgang unseres spannenden Abenteuers sowie unserer erfüllten Zeit entgegen. Letztlich dürfen wir in trautem Gleichklang entweder das verbindende Erlebnis gemeinsamer Trauer oder sogar das euphorische Glück des universellen Siegestaumels empfinden. Freudig tanzend umarmen wir einander lachend und es durchströmt uns das intensive Gefühl: Wenn wir dieses Spiel gemeistert haben, können wir auch die Welt retten! Friede, Freude und Eierkuchen für Alle!! Jung und Alt, Mann und Frau, ja sogar Experten- und Familienspieler sind endlich miteinander versöhnt!!!
Die Realität schaut leider oft anders aus: Die Gemeinsamkeit beschränkt sich auf den – meist zum Scheitern verurteilten – Versuch, unklare bzw. unvollständige Anleitungen zu enträtseln. Der Gamma-Spieler starrt auf den Spielplan wie das Kaninchen vor der Schlange und kann sich vor Angst, die ganze Gruppe durch sein möglicherweise falsches Handeln in den Untergang zu führen, zu keiner Entscheidung entschließen; und so ist das Einzige, was sich über einen längeren Zeitraum bewegt, der Schweißtropfen auf seiner Stirn. Der Beta-Spieler achtet – nachdem er die grundsätzlichen Spielmechanismen verstanden hat – nur mehr peripher auf das Geschehen, stattdessen blättert er lieber in diversen Spielanleitungen herum, weil es bei „kooperativen Spielen ja ohnehin egal ist, was man tut“. Am Schlimmsten ist jedoch der Alpha-Spieler: Er kennt sich schon ein wenig aus (bzw. vermeint sich auszukennen) und will allen anderen auf penetrante Weise erklären, was sie zu tun bzw. zu unterlassen haben. Bald entstehen deswegen Unstimmigkeiten bzw. vielleicht sogar ein Zwist, weil es jemand gewagt hat, von diesen ständig mit Nachdruck erteilten Empfehlungen abzuweichen. Es geht also bald so „friedlich“ zu wie bei einer Welt-Klima-Konferenz und das hehre Vorhaben der Verwirklichung eines gemeinsamen Zieles fällt in sich zusammen wie ein misslungenes Salzburger Nockerl.
Warum also im Brettspiel nicht gleich die ehrliche kompetitive Konfrontation suchen, als im kooperativen Spiel entstehende indirekte Konflikte von hintenherum auszutragen? Konsequenter Weise sollten kooperative Spiele also gleich alleine gespielt werden. Die Anwesenheit (nur) eines Mitspielers ließe sich anfangs noch damit begründen, dass man sich wechselseitig auf allenfalls vergessene Regeldetails aufmerksam machen kann. Mir fallen jedenfalls nur drei Spiele ein, welche aus anderen Gründen das Konzept der kooperativen Spielweise tatsächlich rechtfertigen konnten:
„Space Alert“ (2008; Vlaada Chvátil) umschifft aufgrund des bestehenden Zeitdruckes elegant die Problematik eines die anderen dirigieren wollenden Mitspielers, da in der allgemeinen Hektik jeder genug mit sich selbst beschäftigt ist. Erst wenn die Mitspieler erkennen, dass es für einen Erfolg nicht ausreicht, sich so wie in jeder „gut funktionierenden Organisation“ zu benehmen – jeder macht was er will, aber keiner weiß was er tut – kommen die Leute auf konstruktive Weise durch Reden zusammen und beginnen sich zu koordinieren.
„Die Legenden von Andor“ (2012, Michael Menzel) wiederum kann durch seine Erzählstruktur überzeugen, wonach die Regeln sowie die genauen Aufgaben der diversen Abenteuer erst im Spielverlauf ganz nebenbei „erlebt“ werden und die Mitspieler sohin tatsächlich gemeinsam an einer – allen zunächst nicht näher bekannten – Geschichte teilhaben können (zumindest beim ersten Kennenlernen der diversen „Legenden“).
Und der kleine Spiel-des-Jahres-Preisträger aus dem Vorjahr – „Hanabi“ (Antoine Bauza) – kann schon wegen der verkehrt herum gehalten Karten nicht alleine gespielt werden. Dafür eröffnet dessen Umsetzung die Möglichkeit für neue Konflikte: Die Mitspieler können hier nämlich nicht nur über die „Unfähigkeit“ der anderen streiten, sondern endlich auch darüber, welche Informationen in einem erlaubten Hinweis enthalten sein dürfen und welche nicht.
Und was hat das alles mit „SOS Titanic“ zu tun? Nun, gleich auf Seite 3 der Anleitung wird mit frappanter Ehrlichkeit eingeräumt, dass es „alleine gespielt werden kann. Dann triffst Du natürlich alle Entscheidungen selbst“ – und so soll es ja wohl auch sein! Der Vorzug des Alleinespielens liegt auch darin begründet, dass es sich bei „SOS Titanic“ um eine Variante des Patiencen-Kartenlegens handelt. Und wer würde schon auf die Idee kommen, mit mehreren Mitspielern gemeinsam eine Patience legen zu wollen? (Nicht umsonst haftet dieser Tätigkeit das Klischee an, eine der Lieblingsbeschäftigungen von Hofratswitwen zu sein). Auch hier sollen wir also eine chaotische Unordnung unter mehreren verdeckten Kartenreihen samt Nachziehstapel zunächst in absteigende Reihenfolgen vorsortieren, um diese letztlich in geordnete aufsteigende Abfolgen zu bringen. Ähnlich wie bei der „Mystery Rummy“-Serie (von Mike Fitzgerald) wird das bekannte und bewährte Spielprinzip nicht nur um neue Ideen bereichert, sondern auch in eine thematisch stimmige Geschichte eingebettet. Hier stellen die Karten nämlich jeweils Passagiere der Titanic dar, welche in penibler Ordnung in die richtigen Rettungsboote (= die jeweils erste Karte jedes Stapels) geleitet werden sollen.
Im Unterschied zu einem normalen Kartenpaket gibt es jedoch nur zwei Farben: Dabei steht Lila für die erste Klasse, die zweite Klasse muss sich mit Gelb begnügen. Das macht das Sortieren zunächst einmal natürlich einfacher. Dafür sind die Werte jeweils doppelt vorhanden und in Gelb gibt es (zweimal) 17 Karten (im Gegensatz zu der 13 als höchste Zahlen bei Lila bzw. zu den üblichen Kartenwerten). Als weitere, vor allem hervorstechende Besonderheit hat man hier aber auch noch einen gewissen stressigen Zeitdruck: Dauert das Kartensortieren (bzw. das Retten der Passagiere) nämlich zu lange, sinkt die Titanic bekanntlich und es heißt „Game Over“. Immerhin darf man sich auch im Falle des Scheiterns an mehr oder weniger erzielten Siegpunkten erfreuen, wobei bereits 20 davon ein besseres Ergebnis als das tatsächlich historische bedeuten sollen (und welche eigentlich immer erreicht werden können). Ein „Aufgehen“ der Patience bringt mindestens 60 Punkte, das absolute Maximum von 100 Punkten ist jedoch nur theoretischer Natur (außer die Karten werden nach einer gewonnenen Partie nicht gemischt).
Der zeitliche Faktor wird durch ein schön gestaltetes Ringbuch dargestellt, welches das Sinken der Titanic bebildert (und auch als großes Daumenkino verwendet werden kann): Auf jeder Seite ist der gerade aktuelle Status des Unterganges zu sehen und zeigt vor allem, auf wie vielen Schiffsdecks unsere Passagiere noch unterkommen können; ein Deck entspricht dabei einer Kartenreihe. Bei jedem Umblättern fließt mehr Wasser in das Schiff und schon bald ist das erste Deck komplett geflutet. Die dort angelegten Karten müssen zwar nicht gleich ertrinken, dafür drängen sie in das nächste Deck und bewirken noch mehr Chaos bei den dortigen Passagieren – die Karten der beiden Reihen müssen also gemischt und verdeckt neu ausgelegt werden. Das ist natürlich dann besonders bitter, wenn man bereits mühsam eine gewisse Ordnung in eine oder gar beide der betroffenen Kartenreihen gebracht hat und nun unter erschwerten Umständen mit dem Sortieren neu beginnen muss. Umgeblättert wird das Ringbuch stets dann, wenn beim Nachziehen vom verdeckten Kartenstapel kein passender Passagier mit dabei ist, also wenn in den diversen Reihen und Stapeln keine Karte korrekt angelegt werden kann. Auch das Neumischen des Nachziehablagestapels wird ebenso sanktioniert.
Die Entscheidungsmöglichkeiten ergeben sich zum einen aus unterschiedlichen Charakter-Karten, zum anderen aus Aktionskarten. Zu Spielbeginn verkörpert man nämlich ein bestimmtes Mitglied der Crew und verfügt derart über unterschiedliche Startbedingungen und Sondereigenschaften, die natürlich sinnvoll eingesetzt werden wollen. Die Aktionskarten erlauben noch gravierendere Eingriffe in die Grundregeln, etwa das Anschauen des Nachziehstapels und Anlegen einer ausgesuchten Karte, Umschichten von Kartenreihen, etc. Oft ist es entscheidend, die Aktionskarten zum „richtigen“ Zeitpunkt einzusetzen: Zu früh entfalten diese vielleicht keine ausreichende Wirkung, zu spät kann es dafür natürlich schon zu spät sein. Wesentlich ist jedenfalls ein gutes Gedächtnis hinsichtlich bereits aufgedeckter und wieder umzudrehender Karten: Zum einen sollte man sich merken, in welcher Reihe welche (bereits gesehene) Karte liegt; zum anderen, welche Karten sich im Ablagestapel befinden, sodass diese nach dem Neumischen wieder auftauchen werden. Bei Letzterem kann man natürlich auch „schummeln“ und sich das Durchschauen des Ablagestapels selbst erlauben; immerhin soll das Spiel ja Vergnügen bereiten und nicht zur Denk-Qual ausarten.
Als Manko bei den grundsätzlich einfachen Spielregeln sind zum einen manche Formulierungen zu konstatieren. Wären zusätzlich nicht auch gut bebilderte Beispiele abgedruckt, würde man es nur schwer zu einer ersten Partie schaffen – und dass, obwohl das Grundprinzip des Spiels ja ohnehin allgemein bekannt ist! Etwa wird das Nachziehen von Karten sehr holprig als „die Rettung der Passagiere vorbereiten“ bezeichnet. Diese Wortfolge findet sich dann leider auch an anderer Stelle wieder, sodass man sich das mehrfach auf ein verständliches Niveau übersetzen muss. Die Symbolik der diversen Aktionskarten wiederum ist zwar logisch, jedoch auch beim wiederholten Spiel nicht gleich nachzuvollziehen, sodass man hier eigentlich immer die Beschreibung der Auswirkungen der Aktionskarten nachlesen muss. Dafür weist jede Passagierkarte (ab dem Wert 2) erfreulicherweise eine eigene Grafik auf, wobei mit den niedrigeren Werten passender Weise zunächst Kinder und Frauen gerettet werden.
Jedenfalls ist es immer wieder spannend, sich als Lebensretter zu betätigen. Neben den unterschiedlichen Charakter-Karten besteht die Varianz vor allem aus den diversen Aktionskarten, sodass die kurze Spieldauer wiederholt zu einer weiteren Partie einlädt. Die Anleitung bietet außerdem Möglichkeiten an, mit denen man sich – und den Passagieren – das (Über-)Leben noch schwerer machen kann. Zwar hängen Sieg oder Niederlage weniger vom eigenen Geschick als von der „Freundlichkeit“ der Karten (bzw. deren anfänglicher Verteilung) ab, doch darf man hier immerhin das Gefühl haben, dass das Erreichen des Spielzieles (bzw. das Schicksal von mehreren Dutzend Menschen) in der eigenen Hand liegt. Oder ist mein häufiges Scheitern bloß darin begründet, dass ich einfach zu schlecht spiele? Vielleicht sollte ich mir also Unterstützung bei Mitspielern suchen? Da trifft es sich ja gut, dass „SOS Titanic“ eigentlich ein kooperatives Spiel ist!
Harald Schatzl
Spieler: 1-5
Alter: 8+
Dauer: 30+
Autor: Bruno Cathala, Ludovic Maublanc
Grafik: Sandra Fesquet
Preis: ca. 20 Euro
Verlag: Heidelberger 2013
Web: www.heidelbaer.de
Genre: Karten legen
Zielgruppe: Familie
Spezial: 1 Spieler
Version: de
Regeln: de en jp
Text im Spiel: ja
Kommentar:
Anleitung und Symbolik erschweren den Einstieg
am besten als Solitär-Spiel
Schachtelgröße ist nur wegen der Ausmaße des Ringbuches bedingt
Vergleichbar:
Patiencen Legen, Mystery-Rummy-Serie
Andere Ausgaben:
Ludonaute, Frankreich
Meine Einschätzung: 5
Harald Schatzl:
„SOS Titanic“ führt das Patiencen-Legen mit einer stimmigen Hintergrundgeschichte und neuen Ideen in das 21. Jahrhundert und ermöglicht zu Hause und unterwegs (etwa auf einer Schiffs-Kreuzfahrt) viele spannende Solo-Partien (eventuell kann man noch Kate und/oder Leonardo mitspielen lassen).
Zufall (rosa): 2
Taktik (türkis): 1
Strategie (blau): 0
Kreativität (dunkelblau): 0
Wissen (gelb): 0
Gedächtnis (orange): 2
Kommunikation (rot): 2
Interaktion (braun): 0
Geschicklichkeit (grün): 0
Action (dunkelgrün): 0