MEMOIR ’44  -  60-jähriges Jubiläum

 

D-Day - Landung in der Normandie

 

Der aufstrebende Verlag Days of Wonder hat „Memoir ’44“ im Jahr 2004 in Zusammenarbeit mit der „Mission for the 60th Anniversary of the D-Day Landings & Liberation of France“ herausgebracht. Mit entsprechend pathetischen Worten wird der Käufer im Regelheft auf die in diesem Spiel präsentierten Kriegsszenarien vorbereitet: … das Spiel wurde entwickelt, um an die Plagen und Opfer der Männer und Frauen während des Zweiten Weltkriegs zu gedenken. Die Herausgeber vertrauen darauf, dass die Spieler durch „Memoir ’44“ mit einem verstärkten geschichtlichen Bewusstsein ausgestattet werden, wie auch mit dem Wunsch, mehr über diese ‚Greatest Generation of all’ zu erfahren … (frei übersetzt, Anm. d. Verf.) Nun, als Rezensent kann ich nur versuchen, in meinen weiteren Ausführungen möglichst objektiv diese edlen Gedanken an den Leser heranzutragen. Dass dieses Spielprinzip vom Publikum, vor allem dem amerikanischen, mit großer Begeisterung angenommen wurde, beweisen die zwei für die Internationalen Spieletage in Essen 2005 angekündigten Erweiterungen „Terrain Pack“ und „Eastern Front“, die die Kämpfe in Südeuropa/Nordafrika bzw. der Russlandfront nacherleben lassen.

Das Ziel aller Szenarien ist es, eine bestimmte Anzahl von „Victory Medals“ zu gewinnen. Und bei „Memoir ’44“ haben wir es genau genommen mit sechzehn Schauplätzen sowie einer durch Zusammenlegung zweier Spiele geschaffenen Overloard-Mission zu tun. Dieses zum Sieg nötige Sammeln von Auszeichnungsplaketten gelingt nur durch forsches Eroberungsspiel, so viel sei vorweg gesagt. Um eines dieser Szenarien durchzuspielen, ist allerdings einige Vorbereitung nötig, wollen doch sowohl Kampfeinheiten verschiedenster Art wie auch Symbolplättchen für Flüsse, Wälder, Hecken, Dörfer und dergleichen in bestimmte Positionen auf einer der beiden durch 13 x 9 Hexagonalfelder definierten Geländeplatten platziert werden. Hier sollten keine Fehler passieren, da ja alle Szenarien, wie etwa Sainte Mère-Église, Sword Beach, Omaha Beach, Operation Cobra, Montélimar oder Arnhem Bridge, um nur einige zu nennen, eine stark historische Anlehnung nehmen. So verlangt etwa Szenario 1 – Pegasus Bridge (June 6, 1944) die Platzierung von 35 Geländeplättchen, 5 Verteidigungsmaterialien sowie 2 Siegesplaketten, darüber hinaus die Aufstellung von 60 Infanteristen auf exakt vordefinierte Positionen. Hier vergehen schon mal einige Minuten, bis Sie mit dem eigentlichen Kampf beginnen können. Dennoch möchte ich bereits an dieser Stelle betonen, dass die Vorbereitungsarbeit auf Grund des exzellenten Materials (Infanterie, Artillerie und Panzereinheiten sind dreidimensional gestaltet) sowie der graphisch herausragenden Szenarienpläne (im Regelheft) eher locker von der Hand geht. Ob Sie jedoch mit den ‚Krieg simulierenden’ Tarnfarben der Figuren ebensolche Freude haben wie die amerikanischen Spieldesigner mag dahin gestellt bleiben.

Das eigentliche Eroberungsspiel folgt sehr einfachen, logisch begründeten Konzepten, die dennoch von den Spielern neben dem nötigen Kampfglück einen strategischen Plan verlangen. Richard Borg hat für dieses Spiel geschickt mehrere Steuerungselemente miteinander verwoben. Zum einen können Sie in Ihrem Spielzug entsprechend der Kommandokarten („Section Cards“) an der linken oder rechten Flanke, bzw. im Zentrum Truppen bewegen, manchmal sogar auf allen Kriegsschauplätzen gleichzeitig. „Tactic Cards“ erlauben zudem Spezialeinsätze oder andere unerwartete Truppenbewegungen. Zum zweiten hängen Bewegungsfreiheit und Feuerkraft unmittelbar voneinander ab. Je weiter Sie in einem Spielzug mit Ihren Truppen in feindliches Territorium vorstoßen, desto weniger Energie bleibt für den eigentlichen Kampf. Als drittes Element dienen vier Würfel pro Spieler, die spezielle Symbole tragen. Dadurch können feindliche Infanterie, Artillerie oder gar Panzer erfolgreich ausgeschaltet werden, vorausgesetzt die Würfel zeigen zur richtigen Zeit die richtigen Symbole. Allerdings gibt es hier doch eine kleine Einschränkung: mehr als drei Soldaten einer Truppe können nur in extremen Ausnahmefällen gleichzeitig einem Angriff zum Opfer fallen. Daher bleibt in der Regel die Chance für eine gefährliche Gegenattacke. Auch Fluchtbewegungen des Gegners können durch entsprechende Fahnensymbolik erzwungen werden, bisweilen mit katastrophalen Folgen. Die Kernidee, Units (Truppen) und Armor (Panzer) jeweils in Stärken von vier Mann bzw. drei Stück pro Hex(feld) zu erlauben, und die Victory Medals nur bei völliger Zerstörung einer dieser Einheiten zu gewähren, führt zu schnellen, überlegten Rückzugsstrategien hinter gesicherte Deckung, sobald die eine oder andere Schwächung dies opportun erscheinen lässt. Ein weitere findige Idee sind die so genannten Sichtlinien. Niemals kann jemand durch die eigenen Reihen hindurch feuern, niemals über einen Hügel hinweg den Gegner anvisieren, niemals auch von zu großer Distanz sein Ziel suchen. Daher bilden Bewegung, Terrain und Feuerkraft ein überaus harmonisches Zusammenspiel auf dem Weg zum Sieg der Alliierten oder der Achsenmächte. Da die einzelnen Szenarien zwar im gleichen Grundmechanismus bewältigt werden müssen, jedoch sehr unterschiedliche Terrains, Küstenlinien, Special Forces, Truppen und Kriegsmaterial vorhanden sind, verläuft jeder Kampf anders, sind die Spieler trotz vorgegebener Aufstellung an differenzierte strategische Pläne und taktische Entscheidungen gebunden. Ohne Planung und gemeinsamen Aufmarsch verschiedenster Truppenteile lässt sich auf Dauer eben kaum eine Schlacht schlagen. Dies muss Ihnen bereits beim „Lesen“ der Szenarienpläne klar sein.   

Nun ist es Zeit für einige kritische Anmerkungen. Zum einen scheinen die Szenarien zwar ausgewogen konzipiert, geben aber bei exaktem Spielablauf doch der einen oder anderen Seite ein entscheidendes Übergewicht. Diesem Manko wird in der Regel durch die Empfehlung, jedes Szenario zweimal, mit vertauschten Rollen, abzuwickeln, Rechnung getragen, aber wer möchte schon hintereinander zweimal die gleiche Schlacht schlagen. Positiv ist dagegen zu vermerken, dass das Regelheft eine exquisite Präsentation von sechzehn Ausgangsszenarien bietet, mit denen dem geschichtlich interessierten Spieler ein sehr authentisches Nachspielen der kriegspolitisch entscheidenden Kämpfe des Zweiten Weltkriegs ermöglicht wird, die am so genannten D-Day mit der Landung in der Normandie begannen. Infanterie, Artillerie,  Panzer, Stacheldraht, Sandbarrikaden, Spezialeinheiten, viele der den Zweiten Weltkrieg prägenden Kampfeselemente machen die hohe Qualität dieses amerikanischen Spiels aus. Jedes Szenario wird mit seinem historischen Background, einem wahrlich exakten, in Geschichtsbüchern recherchierten Detailwissen, vorgestellt. Für echte Enthusiasten dieser Zeitepoche wird im Internet sogar weiterführende Literatur empfohlen. Dazu kommen visuell ansprechende Angaben zur präzisen Aufstellung der Truppen, sowohl der Achsenmächte, wie auch der Alliierten, sowie den am jeweiligen Kampfabschnitt nötigen Siegbedingungen. Ergänzt wird dies durch Spezialregeln, die vorschreiben, wie etwa deutsche Elitetruppen, US-Rangers, die britische Airborne Division oder die berühmte französische Résistance gesteuert werden können. Besonders die Idee Richard Borgs, jeweils vier Infanteristen zu einer Unit zusammenzuschweißen, macht strategische Rückzüge bisweilen fast unumgänglich, da während der Scharmützel eine Schwächung um zwei oder drei Mann unvermeidbar scheint. Hier wird dann bei allem Wurfglück doch ein gehöriges Maß an Selbstkontrolle und Planung von den Spielern verlangt, wie ja bereits im vorigen Abschnitt betont wurde. Auch der Regelvorschlag, bei vier oder sechs Spielern in Teams anzutreten, wobei dem Kommando der einzelnen „Generäle“ (oder Kommandeure) jeweils eine der Flanken oder das Zentrum untersteht, erweist sich als sehr brauchbar. Man plant gemeinsam, man entscheidet jedoch letztlich in alleiniger Verantwortung. Vielleicht werden sich manche Spieler an dem doch hohen Glückselement, das den sehr eigenwillig gestalteten Würfeln innewohnt, stoßen. Nun, ich sehe hier nur geringen Ansatz für Kritik, wird doch dieser Zufallsfaktor durch die taktisch und strategisch einsetzbaren Angriffs- und Spezialkarten einigermaßen abgeschwächt. Allerdings müssen Sie ausreichende Kenntnisse der englischen Sprache mitbringen, um die Kartentexte zu lesen und auch richtig zu interpretieren. Daher ist die Altersangabe „8+“, die das Schachtelcover ziert, nicht nur aus moralischen Gründen deutlich zu niedrig angesetzt. Hier helfen auch die „Variants for Young Generals“ wenig, die aus „Memoir ’44“ bestenfalls ein flaues Spiel machen, werden doch interessante Konzepte wie „Terraingewinn“ und „Panzerangriff“ einfach weggelassen, ebenso wie die sehr vielschichtigen „Tactic Cards“. Die Problematik der Altersangaben dürfte sich inzwischen auch im Internet herumgesprochen haben, können doch weitere Szenarios nur unter der Zustimmung, das 13. Lebensjahr erreicht zu haben, herunter geladen werden. Sehr elegant dagegen, fast würde ich sagen meisterhaft, sind die Bewegungselemente der Kampfeinheiten konzipiert. Man bewegt sich manchmal langsam, manchmal schnell, jeweils gekoppelt an die Feuerkraft einer Einheit. Man erkundet unterschiedliche Terrains mit verschiedensten Hindernissen, man wird zu ungewollten Rückzügen gezwungen, und man setzt sich ständig mit sehr überraschenden Einschränkungen der Sicht- und Schusslinien auseinander. Permanent ändern sich die Stärkeverhältnisse in bestimmten Kampfabschnitten, die Blickfelder, die Geländebedingungen und letztlich auch die lokalen Zielsetzungen. Es bleibt immer viel zu tun, möchte man am Ende als gefeierter Fünfsterngeneral nach Hause fahren.

Mein persönliches Fazit: Nie zuvor habe ich bei der Testphase zu einer Rezension so große anfängliche Vorbehalte bei meinen Spielpartnern erlebt, wie bei diesem amerikanischen Bestseller aus der Feder des Richard Borg. Wir Europäer haben so unsere negativen Assoziationen bei allem was mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hat, und wir drücken unsere Empfindungen durch den moralisierend gehobenen Zeigefinger sehr unvermittelt aus. Manchmal vorschnell, würde ich meinen. Denn „Memoir ’44“ ist bei aller Kriegsthematik ein von höchster Stelle approbiertes Spiel, noch dazu mit einem faszinierend einfachen wie spannenden Spielprinzip. So ziert der Aufdruck „Mission du 60ème Anniversaire des Débarquements et de la Libération de la France“ das Schachtelcover, so hat „Memoir ’44“ sowohl den „Wargamer Award for Excellence *****“ bekommen wie auch den Siegespreis beim „International Gamers Award 2004“ davongetragen. Das sind Empfehlungen, die auch europäische Spieler nachdenklich stimmen sollten. Das lebendige, anschauliche Spielmaterial, das bereits bei „Battlecry“ (ein Spiel über den amerikanischen Bürgerkrieg) erprobte „Command & Colors Game System“ Richard Borgs, sowie die authentisch gestalteten Szenarios zahlreicher Kriegsschauplätze, die neben verfügbarer Feuerkraft der Allierten und Achsenmächte auch natürliche Landschaftselemente wie Küstenverlauf, Wälder, Flussgebiete und dergleichen nachempfinden, machen „Memoir ’44“ (und wohl auch seine Erweiterungen) für den unvoreingenommenen Spielfreund zu einem nachhaltigen Erlebnis. Nach und nach verschwinden die oben erwähnten anfänglichen Vorbehalte und machen einem turbulenten Spielabend Platz, geprägt von einem fast ungläubigen Staunen ob des doch irgendwo genialen Spielprinzips. Und letztlich kann unser Gewissen durchaus mit dem Hinweis beruhigt werden, dass es auch für junge Menschen eine Notwendigkeit darstellt, sich mit allen Facetten der Geschichte auseinander zu setzen, unbeeinflusst von Fragen der Schuld und Sühne.  

 

MEMOIR ‘44

Spieler:                 2 / 4-8 im Teamspiel

Alter:                    ab 8 Jahren (Verlagsangabe!)

Dauer:                  30-60 Minuten (je nach Szenario)

Verlag:                  Days of Wonder 2004

                            www.m44platoon.com

Autor:                            Richard Borg

Graphik:                Cyrille Daujean u.a.

Hist. Hintergrund:   Mission for the 60th Anniversary of the Landings & Liberation of France

Erweiterungen:       Terrain Pack & Eastern Front (Herbst 2005)

Preis:                    ca. € 50

 

WIN WERTUNG

Genre:                  Kriegssimulationsspiel   

Zielgruppe:            Experten

Mechanismus:                 Kampfszenarios nacherleben

Strategie:               ***

Taktik:                            *****

Glück:                   ****

Interaktion:            *******

Kommunikation:     ***

Atmosphäre:          ******

Kommentar:

Exzellent recherchierter historischer Hintergrund

16 Szenarios (2. Weltkrieg) verfügbar
Weitere Szenarios im Internet

Hervorragende Graphik

Eleganter und spannender Mechanismus

Hugo Kastner: „Memoir ’44“ ist ein Kriegssimulationsspiel, darüber gibt es nichts zu diskutieren. Und bei dem Wort „Krieg“ schwingt bei uns in Europa sofort eine Lawine von  Assoziationen und Emotionen mit, auch daran ist nicht zu deuteln. Daher darf man diesem amerikanischen Bestseller hierzulande nur ein Schattendasein prophezeien. Als unvoreingenommener Rezensent muss ich dies aber sehr bedauern, denn „Memoir ’44“ vermittelt ein hervorragendes Spielgefühl und hat zudem einen dem Geschichtsbewusstsein sehr förderlichen Spielaufbau. Um es auf einen Nenner zu bringen: Diese Richard Borg Kreation erinnert in seiner figurativen Ausrichtung an die „Warhammer-Familie“, in seinem Kampfablauf aber an das betagte „Risiko“. Wer an einem dieser beiden Spielen seine Freude hat, sollte auch einen Versuch wagen, die Landung in der Normandie nachzuempfinden.    

     

Hugo Kastner

hugo.kastner@chello.at