Rezension

 

Alle Wege führen nach Rommé

 

Ethnos

 

Fantastische Fantasievölkerkunde

 

In den 1970er-Jahren haben wir ja nichts gehabt; und so waren die bei den Großeltern zugebrachten Wochenenden zumeist vom Schachspielen mit Opa und/oder vom Rommé/Rummy-Spielen mit Oma geprägt. Das dürfte dem Buben zwar nicht geschadet haben, doch ist dessen Sehnsucht nach epischen Brettspielschlachten zwischen martialisch aussehenden und grimmig dreinschauenden Fantasy-Heeren jahrelang unerfüllt geblieben. Vielleicht ist es Paolo Mori in seiner Kindheit ja ähnlich ergangen, die Schachtelgrafik und Altersangabe („ab 14 Jahren“) von „Ethnos“ würde das nämlich nahelegen; denn geöffnet springen uns nicht dutzende detaillierte Plastikminiaturen samt eines 50-seitigen Regelwerkes entgegen – wie man es eigentlich erwarten würde – vielmehr lassen sich nach dem Lesen der Anleitung sogar Ähnlichkeiten zu Rummy erkennen! Das Sammeln und Ausspielen von Karten-Sets mit gleicher Farbe und/oder gleichen „Symbolen“ (hier Fantasy-Völker bzw. „Stämme“) wird zusätzlich aber noch um ein – jedoch gänzlich unkriegerisches – Ausbreiten auf einem Spielplan ergänzt.

 

Sammle ich etwa rote Karten, erhalte ich später einen Marker in dem roten Gebiet; alternativ könnte ich für einen (weiteren) eigenen Marker in diesem roten Gebiet auch Karten mit gleichen „Stämmen“ sammeln, sofern zumindest eine davon rot ist. Wobei der Begriff „Sammeln“ für die erste (von gesamt drei) Runden vielleicht nicht so ganz zutrifft: Für meinen jeweils ersten Marker in jedem der sechs Gebiete braucht es nämlich nur eine einzige Karte in dieser Farbe. Danach gilt aber die Formel „X >= Y + 1“: Für jeden weiteren Marker brauche ich in meinem ausgespielten Karten-Set also zumindest um eine Karte (X) mehr als ich zuvor bereits Marker in diesem Gebiet (Y) platziert habe; für den eigenen dritten Marker also (mindestens) drei passende Karten. Dennoch kann es sinnvoll sein, noch mehr Karten als für das Platzieren dieses Markers zwingend erforderlich zu sammeln: Zum einen bringen mehr Karten in einem Set auch mehr Punkte (ähnlich wie bei „Zug um Zug“, Spiel des Jahres 2004) und zum anderen kann ich dadurch vielleicht verhindern, dass sich der eine oder andere Mitspieler in „meinem“ Gebiet festsetzt bzw. ausbreitet, weil ich dafür ja die farblich passenden Karten entziehe.

 

Das Sammeln mehrerer gleichfarbiger Karten bietet außerdem noch einen weiteren Vorteil: Jeder „Stamm“ in einem Karten-Set bietet nämlich einen anderen Vorteil, sofern er beim Ausspielen dieses Karten-Sets als der (einzige) Anführer (bzw. als oberste Karte) bestimmt wird. So kann ich mir etwa bei mehreren roten Karten aussuchen, welche der verschiedenen Sondereigenschaften der „Stämme“ in diesem Set ich aktivieren möchte. Sammle ich hingegen ein Karten-Set bestehend aus nur einem „Stamm“, kann ich nur die Sondereigenschaft dieses einen Stammes nutzen, bin dafür aber in der Wahl des Gebietes – in welches letztlich einer meiner Marker kommen soll – flexibler (weil ich diesfalls Karten in unterschiedlichen Farben ausspiele).

 

Das Aufnehmen von Karten erfolgt entweder (zufällig) über den allgemeinen Nachziehstapel oder (gezielt) über eine offene Auslage – diese wird hier aber nach dem Nehmen einer Karte daraus nicht ergänzt! Und im Gegensatz zu „Zug um Zug“ wird das Dilemma des rechtzeitigen Aufhörens mit dem Kartensammeln hier noch dadurch verschärft, dass alle nach dem Ausspielen eines Sets nicht verwendeten Handkarten nicht nur (offen) abgeworfen werden müssen, sondern derart auch noch den Mitspielern für deren eigenes gezielteres Weitersammeln zur Verfügung stehen – das Abwerfen zuvor „mühsam“ erworbener Karten schmerzt also doppelt. Nach Möglichkeit sollte man sich also auch zu merken versuchen, welche Farben/“Stämme“ die Mitspieler denn so sammeln. Spätestens nach zehn Handkarten ist stets Schluss mit Sammeln und es muss jedenfalls ein Set ausgespielt werden.

 

 

Neben Timing spielt beim Ausspielen/Nachziehen natürlich auch Glück eine Rolle, umso mehr in der dritten und letzten Runde, wenn es immer schwieriger wird, weitere eigene Marker auf dem Spielplan unterzubringen, um eigene Mehrheiten abzusichern oder andere Mehrheiten umzustoßen. Aber auch das Sammeln einer Farbe, die man eigentlich gar nicht mehr für das Platzieren eines Markers braucht, kann noch sehr wertvolle Punkte aufgrund eines längeren Karten-Sets bringen. Zu lange sollte mit dem Ausspielen der Karten-Sets aber schon deswegen nicht zugewartet werden, weil ab der Mitte der Runde (bzw. ab der unteren Hälfte des Nachziehstapels) ein (durchaus auch abruptes) Ende der aktuellen Runde droht und dann alle Handkarten wertlos sind.

 

Die zwölf „Stämme“ des Grundspieles bieten dabei sehr stimmige und sehr unterschiedliche Möglichkeiten: Etwa die Minotauren, mit welchen sich (aufgrund ihrer Stärke) etwas leichter weitere Marker in einem Gebiet platzieren lassen; oder die Geflügelten, mit welchen man sich nicht an die farblichen Beschränkungen beim Platzieren von Markern halten muss; oder die Elben, die es (ganz im Sinne der naturverbundenen Nachhaltigkeit) erlauben, beim Ausspielen eines Karten-Sets Handkarten zu behalten; oder die Zauberer, die einem nach dem Ausspielen eines Karten-Sets neue frische Karten in die Hand „zaubern“; oder die Skelette, die quasi als Joker fungieren, als Nachteil aber keine Punkte für die Größe eines Karten-Sets beisteuern (weil sie vor der Abrechnung zu Staub zerfallen); etc. Als dreizehnten „Stamm“ gibt es (als Promo) noch die „Feen“: Diese erlauben den Austausch des eigenen Karten-Sets mit einem zuvor ausgespielten gleich großen (oder kleineren) Karten-Set eines Mitspielers. Im Internet finden sich auch schon mehrere Fan-Vorschläge für weitere „Stämme“/Sondereigenschafen bzw. wird es wohl auch nicht mehr lange dauern, bis eine offizielle Erweiterung vorliegt.

 

Von diesen „Stämmen“ sind jeweils nur sechs pro Partie mit dabei, was u.a. auch unterschiedliche spielerische Herangehensweisen erfordert. Denn das Ausbreiten auf dem Spielplan ist zwar stets wichtig, manche „Stämme“ ermöglichen relevante Siegpunkte aber auch auf andere, durchaus lukrative Weise. Weitere Varianz wird noch dadurch geboten, als die zu gewinnenden Siegpunkte der sechs Gebiete pro Partie stets neu definiert werden. Soll ich mich mit meinen Mitspielern also um die Mehrheit in einem eher wertvollen Gebiet rangeln oder bevorzuge ich doch weniger punkteträchtige Gebiete, die mir dafür wohl kaum jemand streitig machen wird? Neben dem Kartenglück beim Nachziehen der Karten ist natürlich auch die Anzahl der Mitspieler entscheidend, ob bzw. wieviel Einfluss ich überhaupt auf das ganze Geschehen habe. Und natürlich kann es beim Kartennachziehen vom verdeckten Stapel – wie bei nahezu jedem Kartenspiel – vorkommen, dass die gewünschten Karten nicht und nicht erscheinen wollen, ein vom Schicksal mehr begünstigter Mitspieler stattdessen aber für sich passende Karten zieht. Dadurch kann dieser nicht bloß rascher ein taugliches Set ausspielen, sondern wird in weiterer Folge zum einen mit mehr Punkten, zum anderen auch noch mit einer größeren offenen Kartenauswahl nach dem späteren Ausspielen des glückloseren Mitspielers zusätzlich begünstigt. Da bei den Spielelementen keinerlei Aufholmechanismen vorgesehen sind – im Gegenteil kann ein Hintenliegender sogar noch durch das Rundenende und das Abwerfen müssen sämtlicher seiner Handkarten „bestraft“ werden – kann es auf diese Weise doch zu einem nicht (bis kaum) mehr einholbaren „Kippen“ im Spielverlauf kommen. Zwar darf der Mitspieler mit den aktuell wenigsten Punkten die zweite bzw. dritte Runde beginnen, doch nützt das etwa dem Vorletzten an Punkten gar nichts, wenn er der Letzte in der Sitzreihenfolge sein sollte.

 

Dennoch fühlt man sich hier nicht gar zu sehr gespielt, „Ethnos“ bietet ausreichend taktische Möglichkeiten und interessante Dilemmata für ein befriedigendes Spielgefühl ohne dabei allzu kopflastig bzw. grübelanfällig zu werden. In der dritten und letzten Runde kann aber etwas der Überblick darüber verloren gehen, wo man selbst noch eine Mehrheit sinnvoll verändern bzw. wo es noch aussichtsreich erscheint, als Zweiter oder Dritter in einem Gebiet „mitnaschen“ zu wollen. Dies ist aber weniger den Karten als der Grafik des Spielplans geschuldet, die durchaus „farbenfroher“ hätte ausfallen können. Und leider dient dieser Spielplan bloß der Ablage der diversen Marker und hat sonst keine (insbesondere keinerlei topologische) Funktion. Aber auch bei der Kartengrafik selbst wäre mir eine Comic-ähnlichere Gestaltung angemessener erschienen als die eher düsteren Zeichnungen.

 

Im Spiel zu zweit und zu dritt gibt es kleinere Regeländerungen: Ewa wird die Gesamtrundenanzahlt von drei auf zwei verkürzt und es spielen nur fünf (statt sechs) „Stämme“ mit. Nach der Weiterentwicklung bzw. Modernisierung von Bingo mit „Augustus“ (Nominierungsliste Spiel des Jahres 2013; Spielehit für Familien) hat es der Autor mit „Ethnos“ jedenfalls erneut geschafft, einem „verstaubten“ abstrakten Spielklassiker ein modernes taktischeres Gewand samt einer stimmigen atmosphärischen Spielgeschichte zu verpassen, obwohl Design und Altersangabe falsche Erwartungen wecken können. Ob das auch Oma gefallen hätte? Ein Versuch wäre es jedenfalls Wert gewesen (wohl besser aber ohne Skelette).

 

Harald Schatzl

 

Spieler: 2-6

Alter: 14/10+

Dauer: 45+

Autor: Paolo Mori

Grafik: John Howe

Preis: ca. 40 Euro

Verlag: CMON/Asmodee 2017

Web: www.asmodee.de

Genre: Set-Sammeln, Mehrheiten

Zielgruppe: Freunde

Version: de

Regeln: de en es fr it pl ru

Text im Spiel: ja

 

Kommentar:

gute, etwas langatmige Spielanleitung

witzige Flavor-Texte

leichter Zugang, schnell gespielt

funktioneller Schachteleinsatz

Spielmaterial etwas lieblos

Spiel kann kippen

 

 (c) Bilder: sirchudley, Beatrix Schilke, Bernhard Czermak

 

Vergleichbar:

Zug um Zug

Phase 10 - Das Brettspiel

 

Andere Ausgaben:

Asterion Press (it), CMON (en), Edge Entertainment (es, fr) Lavka (ru), Portal (pl),

 

Gesamt: 5

 

Harald Schatzl:

Ethnos ist ein nicht gar zu komplexes, spannendes, taktisches, „friedliches“ Mehrheitenspiel mit Karten-Set-Sammeln als Basismechanismus. Funktioniert auch für Familien (ab ca. 10 Jahren), sofern das gezielte Sammeln von passenden Karten und das Bewahren des Überblickes auf dem Spielplan als nicht zu fordernd empfunden wird. Bei einer Spieldauer von rund einer Stunde gleicht keine Partie einer anderen; die grafische Gestaltung ist eher düster und zu wenig deutlich.

 

Zufall (rosa): 2

Taktik (türkis): 2

Strategie (blau): 1

Kreativität (dunkelblau): 0

Wissen (gelb): 0

Gedächtnis (orange): 1

Kommunikation (rot): 1

Interaktion (braun): 2

Geschicklichkeit (grün): 0

Action (dunkelgrün): 0